Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

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| Peter Pragal | Rubrik: Gesellschaft | 27.4.2015

Zwischen Vorurteil und Verständnis - Über das Verhältnis von Tschechen zu Deutschen

Pragals Prager Tagebuch (16)

Im Vortragssaal des Goethe-Instituts wurden die freien Stühle knapp. Immer mehr Besucher drängten durch die Tür. Etliche bekamen keinen Platz und mussten stehen. Das überaus große Interesse galt einem neuen Buch der tschechisch-deutschen Historikerin Eva Hahn. „Von Palacky bis Benes“, lautet der Titel. Namen, die bei manchen Deutschen nicht den besten Ruf haben.

Der eine, Frantisek Palacky, dem auf einem Platz nahe der Moldau ein triumphales Denkmal gewidmet ist, gilt den Tschechen seit Mitte des 19. Jahrhunderts als „Vater der Nation“. Der Politiker und Historiker engagierte sich in der tschechischen Nationalbewegung, forderte die Gleichberechtigung seiner Landsleute innerhalb der Habsburger Monarchie und interpretierte in seinem umfangreichen Geschichtswerk die böhmische Historie als immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem Deutschtum.

Der andere, Edvard Benes, war der tschechoslowakischer Staatspräsident, der nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Okkupation seines Vaterlandes vehement für die endgültige „Entgermanisierung“ seines Landes eintrat. Sein Name ist mit zahlreichen Dekreten verbunden, zu denen neben der Verstaatlichung der Wirtschaft die generelle Enteignung und Vertreibung der deutschen Staatsbürger bis auf wenige Ausnahmen gehört.

Die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen stelle eine der Schlüsselfragen in der gesamten tschechischen Geschichte dar, hieß es im Einladungstext. Weiter lese ich: „Und doch - oder vielleicht gerade deswegen - sind die Beziehungen im Bewusstsein sowohl der tschechischen wie auch der deutschen Öffentlichkeit durch viele Stereotypen und Vorurteile belastet.“ Eva Hahn lieferte dafür zahlreiche Beispiele. „Böhmen ist seiner Natur und seiner geographischen Lage nach ein wesentlicher Bestandteil Deutschlands“, zitierte sie aus der Antwort eines Mannes namens Moritz Wagner an Polacky aus dem Jahr 1848. Und: „Von deutschen Völkern umgeben, das Herz von Deutschland berührend, geographisch und geschichtlich an uns geknüpft, müssen die Czechen dem Gedanken entsagen, ein von uns abgesondertes slawisches Reich zu bilden.“

Eva Hahn, die wie die anderen Teilnehmer des Podiums an diesem Abend - bei simultaner Übersetzung ins Deutsche - tschechisch sprach, beließ es nicht bei dieser Äußerung. Aus ihrem Buch reihte sie Aussage an Aussage, die durchwegs im völkischen und nationalistischen Tenor verfasst waren. Zwar zitierte sie auch einige gegenteilige Bekundungen wie etwa Hermann Bahr aus dem Jahr 1911 („Was unsere Völker verbindet, ist überall viel stärker, als was uns trennt“), aber der Eindruck germanischer Überheblichkeit wurde dadurch kaum gemildert. Ob es auch eine Publikation mit tschechischen Stereotypen über Deutsche gebe, wollte jemand aus dem Publikum wissen. Die Antwort war ein klares Nein.

Das Thema des Abends, sagte Institutsdirektor Berthold Franke, sei „eine ganz vitale Frage, die uns über Generationen begleitet.“ Tatsächlich verbindet sich mit der Rückschau auf die Historie auch ein Blick auf die Gegenwart. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen sind heute keineswegs spannungsfrei. Nach wie vor gebe es Tschechen, vorwiegend aus dem chauvinistischen und kommunistischen Spektrum, die ihre Vorurteile gegenüber Deutschen pflegen, sagen mir Gesprächspartner. Befördert werden sie ausgerechnet vom ersten Mann des Staates. Erst vor kurzem hatte Milos Zeman seine Reisepläne zu den russischen Siegesfeierlichkeiten in Moskau mit dem Satz kommentiert: „Ich begreife das als einen Ausdruck meiner Dankbarkeit dafür, dass wir in unserem Land nicht Deutsch sprechen müssen.“

Dabei hatte es nach der samtenen Revolution 1989/90 so hoffnungsvoll begonnen. Pionierarbeit leistete Vaclav Havel, der schon kurz nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten nach Deutschland reiste und den Bürgern des Nachbarlandes seine Hand zur Versöhnung ausstreckte. Es folgten der deutsch-tschechoslowakische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit sowie die Deutsch-Tschechische Erklärung, die - wie es der Dichter und Diplomat Jiri Grusa ausdrückte - gewährleisten solle, dass nicht noch einmal „die Vergangenheit eine anbrechende Zukunft im Keime erstickt.“ Der deutsch-tschechische Jugendaustausch wurde auf den Weg gebracht. Der neu geschaffene Deutsch-Tschechische Zukunftsfond finanziert gemeinsame Projekte. Kommunen und Schulen nahmen Kontakt zueinander auf. Organisationen und Bürgerinitiativen auf beiden Seiten bauten und bauen Brücken der Verständigung.

Doch nach und nach erlahmte der Elan der Anfangsjahre. Die Regierungskontakte zwischen den beiden zur Europäischen Union gehörenden Ländern wurden zur Routine. „Die Zeit der großen Gesten ist vorbei“, sagt der in Prag ansässige deutsche Journalist Hans-Jörg Schmidt. Gewiss, die wirtschaftliche Zusammenarbeit läuft prächtig. Deutsche Firmen sind mit Abstand die größten ausländischen Investoren. Der Kulturaustausch ist zu einer festen Größe geworden. Parlamentarier beider Länder treffen sich zu Konsultationen. Aber unterschwellig erweist sich die Vergangenheit nach wie vor als belastend. Im kollektiven Gedächtnis beider Nationen sind weder die Besetzung durch die Nationalsozialisten noch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung vergessen.

„Jedes Volk muss sich zu seiner ganzen Geschichte bekennen, auch zu seinen Fehlern und Verbrechen“, hat Volkmar Gabert, der 2003 verstorbene SPD-Politiker und langjährige Vorsitzende der sudetendeutschen Seliger-Gemeinde gesagt. Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland, wo erst die Generation der 68-er eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erzwang, dauerte es auch in Tschechien lange, bis das Tabu über Vertreibungsverbrechen an Deutschen breit und öffentlich diskutiert wurde.

„Die Tschechen haben sich in den Jahren 1945 bis 47 als schlechte Sieger verhalten, als sie es ihrem Mob erlaubten, Wehrlose zu berauben und zu ermorden“, hat der Dichter und Schriftsteller Pavel Kohout in seiner Autobiographie geschrieben. Einen Nachholbedarf an Aufklärung sieht er nicht. Dafür hätten vor allem tschechische Historiker und Journalisten gesorgt. „Die tschechische Legende, die gewalttätiges Marodieren und Töten von Unschuldigen als Kampf für eine gerechte Rache ausgab, wurde von der Wahrheit bereits hinweggefegt.“ Diese Einsicht gilt vor allem für die jüngere Generation. Angehörige der älteren gehen dagegen gerne über die Nachkriegsereignisse hinweg. Ein deutscher Kenner Tschechiens erklärt das mit schlechtem Gewissen. „Die Ressentiments sind dort am größten, wo die Kollaboration am stärksten war.“

Umgekehrt haben sich auch viele Sudetendeutsche reichlich Zeit gelassen, um Vorbehalte abzubauen und sich von Illusionen zu lösen. Der Beschluss ihrer Bundesversammlung, die Paragraphen der Vereinssatzung zu streichen, die von einer „Wiedergewinnung der Heimat“ wie von einer „Restitution oder gleichwertigen Entschädigung“ sprechen, war überfällig. Allzu lange hatten gerade diese beiden Bestimmungen dazu gedient, das Feindbild von den angeblich revanchistischen Sudetendeutschen immer wieder aufzufrischen. Auch wenn Milos Zeman die Sudetendeutsche Landsmannschaft für „einen schlichtweg bedeutungslosen Verein“ hält - die späte Entsorgung des verbalen Ballastes wurde jedenfalls im politischen Prag aufmerksam registriert. Denn die Korrektur der Satzung ist aus Sicht der Regierung „eine Voraussetzung für die Verbesserung der Beziehungen.“

Bei Besuchen in meiner jetzt polnischen Geburtsstadt Breslau ist mir immer wieder angenehm aufgefallen, wie die heutigen Bewohner mit der Historie umgehen. Nach dem Ende der kommunistischen Ära sind sie Schritt für Schritt daran gegangen, die deutsche kulturelle Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern sie auch in ihre eigene Geschichte zu integrieren. An vielen Gebäuden erinnern zweisprachige Gedenktafeln an namhafte deutsche Persönlichkeiten, die vor 1945 in Schlesiens größter Stadt gewohnt haben. Und im Rathaus sind Köpfe berühmter, in Breslau lebender Söhne und Töchter aus allen Epochen aufgestellt.

Prag tut sich damit schwer. Gewiss, die wichtigsten der deutschsprachigen, zumeist jüdischen Schriftsteller sind im öffentlichen Bild der Stadt präsent. Aber ansonsten ist man von der Erinnerungskultur, wie sie in der Oder-Metropole gepflegt wird, noch weit entfernt. Wenn ich - wie etwa auf der Kleinseite - zweisprachige Straßenschilder entdecke, dann stammen die graphischen Schmuckstücke aus der Zeit der Monarchie.

Vielleicht habe ich mich nicht ausreichend im Straßenbild umgeschaut, aber eine zweisprachige Gedenktafel wie die für den Komponisten und Musiklehrer Johann Wenzel Tomaschek (1774 - 1850), die ich in der Thomasgasse entdeckte, erscheint mir eher als Ausnahme. Und noch ein Beispiel: Während die Dauerausstellung „1000 Jahre Breslau“ im ehemaligen preußischen Königsschloss bis in die Gegenwart reicht, fehlt im Städtischen Museum Prag die komplette Darstellung des 20. Jahrhunderts. „Die Polen“, sagte mir eine tschechische Gesprächspartnerin, „sind einfach weiter.“

In der Vocelova-Straße Nr.3 steht das von der Stadt Prag finanzierte „Haus der nationalen Minderheiten.“ 14 Nationalitäten haben hier ihre Büros. Ukrainer und Slowaken bilden mit rund 130.000 beziehungsweise etwa 100.000 Bürgern die größten Gruppen. Aber auch Russen, Griechen, Polen, Ungarn, Slowenen, Bulgaren, Kroaten und Serben finden hier Rat und Unterstützung. Dann gibt es auch noch Roma und etwa 60.000 Vietnamesen, die - wie Direktor Jakub Stedron berichtet - zumeist in Tschechien geboren und „sehr gut integriert sind.“

Die Deutschen sind mit etwa 20.000 gemeldeten Bürgern eine der kleineren Minderheiten. Im ersten Stock arbeitet Irena Novak vom „Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität in der Tschechischen Republik.“ Etwa 30 Mitglieder zählt die Prager Gruppe. Für sie organisiert die Bürochefin Lesungen, Ausstellungen, Filmvorführungen und hin und wieder einen Ausflug.1969 wurde der Verband offiziell zugelassen. Ortsgruppen durften sich nur in Städten und Gemeinden gründen, die an der Grenze zur DDR lagen. Die heutigen Mitglieder sind in der Regel „Heimatverbliebene“, Nachkommen von Sudetendeutschen, die berufsbedingt nach dem Krieg in Tschechien bleiben durften. Andere sind Kinder aus gemischten Ehen.

Irena Novak, Jahrgang 1959, zählt zur ersten Gruppe. Ihr Vater war in Gablonz Glasbläser, die Mutter Krankenschwester. Die Tochter wuchs zweisprachig auf. In ihrer Schulzeit gab es zu Beginn noch Deutsch-Unterricht. Viele Gleichaltrige können jedoch kein Deutsch mehr, sagt sie. Sie seien in der kommunistischen Zeit assimiliert worden und hätten keine Beziehung mehr zu sudetendeutschen Traditionen. Die Aktiven, die sich heute in der Prager Gruppe des Verbandes engagieren, seien zum größten Teil selbst alte Leute. „Sie freuen sich, wenn sie hier zusammen kommen, Kaffee trinken und sich unterhalten können.“

Auf dem Flur liegen einige Exemplare der Zeitschrift „LandesEcho“, herausgegeben von der „Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien.“ Das Monatsmagazin versteht sich als „Medium des deutsch-tschechischen Dialogs.“ In der März-Ausgabe wird Walter Piverka vorgestellt. Der heute 84-jährige war während der Herrschaft der Kommunisten aus dem von ihm mitbegründeten Kulturverband wegen antisozialistischer Äußerungen ausgeschlossen worden. Erst nach der Samtenen Revolution sah er wieder die Möglichkeit, sich für die deutsche Minderheit zu engagieren. „1989, nach der Wende, haben sich im Bürgerforum die wieder gefunden, die damals vom Kulturverband rausgeworfen wurden“, berichtet er der Zeitschrift.

Die Redaktion befragte ihn auch nach der Zukunft der deutschen Minderheit. Seine Antwort: „Diese Frage wurde mir schon gestellt, als ich 1990 angefangen habe, mit Kollegen den Verband der Deutschen aufzubauen. Damals habe ich gesagt, es wird eine Zeit kommen, wo wir uns in einer Talsohle befinden werden. Eine Zeit, in der wir weniger werden. Aber weil wir im Mittelpunkt Europas leben und deutschsprachige Länder um uns herum sind, werden Leute kommen. Es kommen Leute ins Land, die hier Fuß fassen werden und sich für ein kulturelles Leben interessieren werden.“

geschrieben am 26. April 2015

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