Brünn - Obwohl ich aus dem traditionell "deutschen" Brünn komme, wo zu Zeiten des Husák-Regimes das Signal des österreichischen Fernsehens einen der wenigen Einblicke in die freie Welt ermöglichte, gehöre ich leider zu der Generation, in der die aktive Kenntnis des Deutschen so selten ist wie die Thüringer Bratwurst in Mähren.
Dennoch habe ich in Deutschland eine fortwährende und über die Jahre beständige Liebe, zu der ich Jahr für Jahr ergeben zurückkehre und die ich nicht aufhöre zu verehren. Diese beschenkt mich dafür regelmäßig mit einer der schönsten Zeiten, die ich im Jahr erleben kann. Es handelt sich dabei um das Tanz- und Folkfest in Rudolstadt, dem malerischen Städtchen an der Saale, etwa 30 Kilometer von Jena entfernt.
Rudolstadt liegt in Thüringen, und während des Kalten Krieges hatte es somit das Pech, dass es sich nur um ein paar Kilometer auf der falschen Seite der Grenze befand. Schon zu Ulbrichts und Honeckers Zeiten fand hier ein, allerdings engstirnig-verkorkstes, Folklore-Festival statt.
Nach der deutschen Einheit entschlossen sich dann ein paar Enthusiasten aus dem Westen Deutschlands, allesamt Fans des sich damals in einem ersten Aufschwung befindlichen Genres World Music, zu versuchen, das Festival aus dem Koma zu erwecken. Freilich mit einem völlig anderen Ansatz, nämlich mit einem modernen und inspirativen Zugang zu den volkstümlichen Wurzeln der Musik. Finanziell möglich machten das damals die Fonds zum kulturellen Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands.
Jedes Jahr am ersten Juli-Wochenende durchdringt bis heute Musik das ganze Städtchen. In diesem Jahr wechseln sich vom 3. bis 6. Juli auf acht Haupt- und unzähligen Nebenbühnen die unterschiedlichsten Genres ab - mit ihrer Weiterentwicklung der volkstümlichen Traditionen, vom Jazz über die Avantgarde bis hin zu der unberührten Volksmusik, wie sie seit Menschengedenken in den verschiedensten Ecken unseres Planeten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.
Das Festival liefert dabei nicht nur einen repräsentativen Querschnitt aller Kontinente und Genres, sondern hat auch einen Bildungsanspruch, sodass jedes Jahr ein konkretes Land, ein bestimmtes Musikinstrument und ein bestimmter Tanz fokussiert werden, dem sich die Dramaturgie des Festivals eingehender widmet. In diesem Jahr wird es das Land Tansania sein, das Bassinstrument (vom Kontrabass bis zur Tuba) und als Tanz der Samba.
Der Größe der Veranstaltung zum Trotz herrscht eine häusliche bis geradezu familiäre Atmosphäre: Dank des weitläufigen Raumes, von der Burg über der Stadt bis zum Heinrich-Heine-Park auf der anderen Seite des Flusses, verteilen sich die Besucher. Nach Rudolstadt fahre ich immer zur geistigen Reinigung, ähnlich wie die Menschen sich früher einer Pilgerfahrt unterzogen haben; mit einiger Übertreibung pflege ich zu sagen, dass wenn eines Tages die sozialen und ökologischen Bewegungen gesiegt haben werden, die ganze Welt wie das Festival in Rudolstadt aussehen wird.
In Tschechien kann man kein in allen diesen Parametern vergleichbares Pendant zu dem Festival an der Saale finden. Am nächsten, wenn auch in viel kleinerem Maßstab, kommt ihm aber das brillant geführte Festival Folkové prázdniny in Náměšť nad Oslavou in der Vysočina. In diesem Jahr finden die "Folkferien" vom 26. Juli bis zum 2. August statt.
Jakub Patočka