Gohrisch/Prag - In Sachen Kultur und Musik muss die tschechische Hauptstadt sich wahrlich nicht verstecken. Doch verleitet das Überangebot dazu, von einer Art kultureller Vollversorgung auszugehen. Dem entsprechend verengt sich der Fokus leicht auf das vor Ort Gebotene.
Zwischen "Prager Frühling" und "Herbstsaiten" bevölkern die Giovannis und Vivaldis die Goldene Stadt. Neben hier und dort gereichten Antipasti und bewährten Appetithäppchen werden schwere, mit tschechischem "eidam" überbackene Teigfladen serviert, die schnell ein träge und bewegungsunfähig machendes Sättigungsgefühl hervorrufen.
So tut es gut, hin und wieder einen Blick über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus zu werfen, es eröffnen sich dabei naturgemäß neue Horizonte.
Kulturnachschlag außerhalb der Metropolen
Gohrisch zum Beispiel: Dieser kleine Kurort im Elbsandsteingebirge, aus Prager Perspektive kurz hinter der deutschen Grenze, nur einen Katzensprung von Bad Schandau gelegen, ist seit wenigen Jahren - man mag es eigentlich kaum glauben: Heimstatt des einzigen Schostakowitsch-Festivals der Welt.
Zum sechsten Mal, vom 19. bis 21. Juni, fand in diesem Jahr das dem namensgebenden Komponisten und seinen Werken gewidmete Musikfest statt, das inzwischen Anziehungskraft weit über die Region hinaus besitzt. Tatsächlich ist das Festival nicht nur international besetzt, sondern auch besucht.
Dennoch: Sicher lehnt man sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man die Schostakowitsch-Tage Gohrisch etwas marktschreierisch noch als "Geheimtipp" zu verkaufen wagt.
In diesem Jahr standen sieben Veranstaltungen an zwei Tagen auf dem Programm, zentraler Veranstaltungsort war die vor der Erntezeit noch leere Scheune der Agrargenossenschaft Oberes Elbtal.
Nachdem die Konzerte in den vergangenen Jahren in einem Festzelt aufgeführt worden waren, kehrte das internationale Festival damit zu seinem Ursprungsort des ersten Jahrgangs zurück, der über eine ausgezeichnete Akustik verfügt.
Frischluftkur im Elbsandsteingebirge
Warum Gohrisch? "Die Gegend ist unerhört schön. Übrigens gehört sich das für sie auch so: Die Gegend nennt sich »Sächsische Schweiz«", schrieb niemand anders als Dmitri Schostakowitsch. Sehr treffend auch heute noch, möchte man hinzufügen.
Der russische Komponist weilte zwei Mal - in den Jahren 1960 und 1972 - als Gast der Regierung der DDR in dem Luftkurort.
Bei seinem ersten Aufenthalt komponierte Schostakowitsch hier sein achtes Streichquartett c-Moll op. 110. Das ebenso finstere wie expressive Stück gilt als eines seiner bedeutendsten Werke und ist nachweislich das einzige Werk, das Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion komponierte.
"Die schöpferischen Arbeitsbedingungen haben sich gelohnt: Ich habe dort mein 8. Streichquartett komponiert“, schreibt der Komponist seinen Gohrisch-Aufenthalt bilanzierend am 19. Juli 1960 zufrieden in einem Brief an seinen Freund Isaak Glikman.
Borodin-Quartett spielt achtes Streichquartett
Das in dem Kurort entstandene Werk wurde erwartungsgemäß zu einem der Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Gespielt wurde es im Rahmen eines Kammerabends vom Borodin-Quartett, das auf eine inzwischen 70-jährige Geschichte zurückblicken kann und in Gohrisch mit dem diesjährigen Schostakowitsch-Preis geehrt wurde.
Das legendäre Ensemble ist dabei eng mit dem Namen Schostakowitsch verbunden, denn sämtliche seiner Streichquartette hatte der Komponist mit gerade diesem Klangkörper einstudiert.
Doch die Schostakowitsch-Tage boten mehr als "nur" Schostakowitsch.
Auch Neues gab es für Nichteingeweihte zu entdecken, wie den estnischen Komponisten Arvo Pärt, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert und sich schon früh von Schostakowitsch inspirieren ließ - ein gelungener Brückenschlag in die Gegenwart.
"Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt", beschreibt Pärt seine Arbeitsweise.
Beispielhaft für Pärts religiös motivierte Musik ist das beim Eröffnungskonzert gespielte "Vater unser" für Countertenor und Streichquintett, aber auch die weiteren Vokalwerke, die, in deutscher Erstaufführung, von Andreas Scholl gesungen wurden.
Einen ganz starken Eindruck hinterließ Arvo Pärts "Arbos" für acht Blechbläser und Schlagzeug sowie "These Words..." für Streichorchester und Schlagzeug (aus der späteren vierten Symphonie "Los Angeles", die der Este dem russischen Regimekritiker Michail Chodorkowski widmete). Zur Aufführung gebracht wurden sie am letzten Tag des Festivals als Matinee von der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Vladimir Jurowski.
Dem Vergessen entrissen
Erklärtes Ziel der Festivalmacher ist es, einen unkonventionellen Blick auf den Komponisten Dmitri Schostakowitsch zu ermöglichen und dessen Werke dem Schaffen anderer Komponisten gegenüberzustellen.
Arvo Pärt wurde hier bereits genannt. Eine späte Neuentdeckung dagegen ist der Russe Wsewolod Petrowitsch Saderazki (1891-1953), ein Zeitgenosse Schostakowitschs. Saderazki war einer der letzten Klavierlehrer der Zarenfamilie und geriet später wegen seiner adeligen Abstammung in die Mühlen des stalinistischen Terrorapparates. Viele seiner Werke entstanden in der Lagerhaft, kein einziges wurde zu seinen Lebzeiten gedruckt, geschweige denn öffentlich aufgeführt.
Anders als Schostakowitsch, der - im Januar 1936 von der Prawda mit dem Vorwurf des "Formalismus" konfrontiert - in der Zeit des Großen Terrors den Gulag zwar als reale Bedrohung und Nachtmahr ständig vor Augen hatte, lernte Saderazki den Archipel Gulag von innen kennen.
"Chaos statt Musik" in Stalins Ohren
Saderazki war bereits in den 20er Jahren mehrmals festgenommen worden, 1937 verschwand er erneut und wurde zu "10 Jahren Haft ohne Recht auf Briefwechsel" verurteilt. Unter den Bedingungen des unmenschlichen stalinistischen Lagersystems bedeutete das ein Todesurteil auf Raten.
Zwei Jahre, von Juli 1937 bis Juli 1939, blieb Saderazki tatsächlich in einem Lager des in Sibirien, bis die Bemühungen seiner Frau um Freilassung Erfolg hatten und er wegen "Schließung des Falles" freikam.
In der Zeit im Gulag, unter kaum vorstellbaren Bedingungen, komponierte Saderazki Musik. Zur Aufzeichnung der Noten nutze er kleine Papierblättchen der Lagerverwaltung, wie Telegrammpapier, und musste, da er zwar einen Bleistift, aber keinen Radiergummi besaß, seine Stücke ohne Möglichkeit zur Korrektur ins Reine schreiben. So entstand 1937/38 hinter Stacheldraht Saderazki pianistisches Hauptwerk: 24 Präludien und Fugen für Klavier - ohne dass der Komponist ein Klavier zur Verfügung gehabt hätte.
Schwer verdauliche Gulag-Kost
Dem Engagement seines Sohnes und des Pianisten Jascha Nemtsov ist es zu verdanken, dass dieser Komponist ins Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit zurückgelangt. Den Schostakowitsch-Tagen Gohrisch gebührt das Verdienst, nun mehrere Werke zur Uraufführung gebracht zu haben.
Am Eröffnungsabend erklang das Stück für Querflöte und Klavier "Der Nachtigall Garten". Komponiert hatte es Saderazki im Mai 1945 als Reaktion auf das Ende Zweiten Weltkriegs.
Ebenfalls zur Uraufführung kamen am Samstag in zwei Blöcken die im Gulag entstandenen 24 Präludien und Fugen für Klavier, eine Art "persönlicher musikalischer Mikrokosmos", wie Jascha Nemtsov anmerkt.
Ein stärkerer Kontrast als zwischen der Flöten-Idylle "Der Nachtigall Garten" und diesen Klavierstücken ist kaum vorstellbar. "Die Musiksprache reicht von stilistischen Annäherungen an barocke Vorbilder bis zu düsteren, fast atonalen »Verirrungen«", so Nemtsov. Und doch: "Einige Präludien enthalten fast betörend schöne Melodien langen Atems und voll lyrischer Expressivität oder Melancholie."
Gewiss, hier wurde keine leichte Sommerkost serviert, das Publikum erhob sich am Samstagnachmittag zu minutenlangem Applaus. (nk)