Der Autor

Petra Häfner lebt in Nürnberg. Nach dem Studium der Soziologie, Psychologie und Interkulturellen Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena war sie als Doktorandin am Max-Weber-Kolleg in Erfurt tätig. Sie hat viele journalistische Erfahrungen gesammelt (u.a. bei der Prager Zeitung) und seit 2019 arbeitet sie als freiberufliche Texterin und Autorin.

Neulich ist ihre Kurzgeschichte „Handlauf“ in der Anthologie „100 Bilder 200 Geschichten. Alles eine Frage der Perspektive“ (Ella Stein & Tom U. Behrens, 2021) erschienen.

Im Oktober 2022 ist sie Stipendiatin im Prager Literaturhaus (in Zusammenarbeit mit dem Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller Mittelfrankens, der Stadt Nürnberg und der Faber-Castell-Akademie Stein).

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| Petra Häfner | Rubrik: Feuilleton | 21.10.2022

Einkehr II/II: In meiner Heizung wohnt ein Feuerwerk

Nach späten Morgenden sind die Nachmittage schneller da. Und erst recht die Herbstabende. Der Oktober in Prag meint es gut.

 

Tagsüber:

Das Kreischen der Möwen, das Gurren der Tauben, das Rauschen der Stadt, manchmal das Bellen eines Hundes und die Kinder auf dem Spielplatz auf der Moldauinsel vorm Haus. Das Quietschen der Tram unter mir, hin und wieder ihr aufgeregtes Bimmeln, wenn ein Fußgänger nicht schnell genug ihr Revier überquert hat. Die Sirenen, immer wieder die Sirenen von Polizei und Krankenwagen. Zwar bin ich Sirenen von zu Hause gewohnt; mit dem Nürnberger Plärrer in der Nachbarschaft vergeht kein Tag ohne Sirenen und Blaulicht. Aber hier, hier hören sie sich anders an. Ähnlich wie in den USA. Das dachte ich schon vor 16 Jahren, als ich sie bei meinem ersten Prag-Aufenthalt hörte.

Zwischen 13 und 15 Uhr mischen sich neue Töne in meinen Arbeitsraum. Klaviertöne, Tonleiter-Gesangsübungen, schrittweise in die Höhe, die Bandbreite der Stimme testen, sie aufwärmen. Und wieder zurück in die tieferen Töne. Eine Musiklehrerin und Opernsängerin wohnt unter mir. Nun ja, eigentlich weiß ich nicht sicher, ob sie Opernsängerin ist. Das schnappte ich von einem früheren Stipendiaten auf. Aber Musiklehrerin ist sie, das ist gewiss. Manchmal sind Kinder da, die singen üben. Selten sind es ganze Lieder. Selten eine Melodie, in die man sich einhören könnte.

An manchen Nachmittagen muss ich flüchten. Spätestens wenn die Sonne am fortschreitenden Tag rumkommt und das Wohnzimmer in warmes Licht hüllt. Jeden Tag ein bisschen früher. Nach zwei Wochen spüre ich den Unterschied deutlich. Es ist meist die Zeit, wenn es mich nicht mehr drinnen hält. Ich will die Sonne spüren, in den Sonnenuntergang und manchmal auch in den Mondaufgang hineinlaufen. An den ersten Tagen auf den Spuren meiner Erinnerungen. Schauen, ob die Füße die Plätze wiederfinden, an die sie mich schon vor 16 Jahren getragen haben.

Kehre ich in die Wohnung zurück, nehme ich ihren charakteristischen Duft wieder wahr. Jede Wohnung hat ihren eigenen Duft. Hält man sich eine Weile in ihr auf, riecht man sich ein. Nur wenn man von draußen reinkommt, wird die Nase wieder aufmerksam. In dieser Wohnung riecht man die Spuren, die andere vor mir hinterlassen haben. Und sieht sie auch. Manchmal verlockt es, Gedanken nachzuhängen, wie die Autor*innen vor mir ihren Alltag wohl gestalteten, welcher Platz in der Wohnung ihr Lieblingsplatz war. Welchen Tagesrhythmus sie gelebt haben. Das, was ich jetzt höre und sehe und rieche, müssen sie auch gehört, gesehen und gerochen haben.  

 

Abends:

Wenn die Dämmerung einsetzt, setzt auch das Kreischen des kleinen Jungen von nebenan ein. Zwei Jahre ist er, erzählt mir die Nachbarin, als wir eines Tages den Weg die vier Stockwerke treppauf miteinander teilen. Kinderkreischen tut weh, wenn es lange anhält. Manchmal tut es weh an diesen Abenden. Aber dann denke ich an die Nachbarin und frage mich, wie der Alltag mit einem Kleinkind ist, wenn man jeden Tag mindestens zweimal 139 Treppenstufen mit ihm laufen muss, oft auf dem Arm.

139 Treppenstufen in einem schönen Treppenhaus, das nach Geschichte aussieht und in dem sich bestimmt schon viele Geschichten kreuzten. 139 Stufen – überraschenderweise stören sie mich gar nicht. Vielleicht weil ich darauf vorbereitet war, schon vor meiner Abreise davon gehört hatte. In den ersten Tagen wird mein Atem jedes Mal im dritten Stock schwerer. Ich laufe zu schnell. Das mit den Pausen habe ich nicht so drauf. Auch beim Laufen nicht. Still gehe ich schon am zweiten Tag die Wette mit mir ein, dass ich am letzten Tag nicht mehr schnaufen würde.

Ich sehe die wunderschönsten Sonnenuntergänge vom Wohnzimmer aus, quasi in der ersten Reihe. Freie Sicht über der Moldau rüber zum Petřin-Hügel, hinter dem die Sonne abtaucht. Manchmal sehe ich die Stare ihre Formationen und Muster in den Abendhimmel fliegen, die wechseln wie eine einstudierte Choreographie. Die Stadt rauscht im Verkehr unter ihnen und unter mir.

 

Nachts:

Die Nachtstunden werden meine arbeitsamsten Stunden. Wenn es draußen dunkel ist, der Verkehr leiser wird und das Haus wieder ganz ruhig. Wenn das anachronistische Getrappel der Pferde, die eine Kutsche ziehen, von unten zu mir raufklingt. Und irgendwann auch der Prager Burg das Licht ausgeht. Das sind die Stunden, in denen meine Gedanken am sortiertesten sind, ich leichter meinen Fokus finde.

Erst im Bett mäandern sie wieder wilder, meine Gedanken. Ein unbekanntes Geräusch weckt mich mehrmals auf. Im Halbschlaf meine ich mal ein Gesprächssäuseln im Hintergrund auf einer Party zu hören, mal ein Feuerwerk in der Ferne des herbstlauen Nachthimmels. Dann wiederum den Donner eines fernen Gewitters. Jedes Mal dauert es ein paar Momente, bis ich wach genug bin und verstehe, dass es die Gasheizung ist. Dann denke ich an die Flamme, die in dem Metallkasten flackert und schlafe nicht mehr ein. Was, wenn sie sich nicht bändigen lässt? In meiner Heizung wohnt ein Feuerwerk – den Gedanken nehme ich mit in den nächsten Morgen.

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