Der Autor

Philip Krömer (*1988 in Amberg) lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Erlangen.

Bisherige Bücher sind der Roman Ymir (2016), der Erzählungsband Ein Vogel ist er nicht (2019) und sein zweiter Roman Kumari. Letzteren wählte die Hotlist-Jury unter die 10 besten Bücher des Jahres 2025 aus unabhängigen Verlagen.

Für seine literarische Arbeit erhielt er mehrere Auszeichnungen, u.a. den Publikumspreis beim open mike Berlin 2015 und den Nürnberger Kulturpreis 2020. 2023 war er Stifter-Stipendiat im tschechischen Horní Planá, 2025 ist er Grenzenlos-Stipendiat in Prag.

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| Philip Krömer | 3.11.2025

Von oben Gesang

Und ich trete in das Haus, in dem ich wohne.
(Bohumil Hrabal: Kafkarien)

Der Bus füllt sich, meine Anreise fällt auf den Beginn eines verlängerten Wochenendes in Deutschland. In Nürnberg wird er so voll, dass zwei Mitreisende vor der Bordtoilette stehen müssen wie deren traurige Wächter.

Eine Gruppe Spanier hat mitgekriegt, dass es einen Getränkeverkauf im Bus gibt, und trinkt schon Pilsener Urquell. Die Frau vor mir legt eine halbe Stunde lang Filter über ihr Selfie, bis es aussieht wie zuvor. Dann fragt sie ChatGPT nach Erziehungstipps für ihren 16-jährigen Sohn. Ich sehe nicht schnell genug weg, will nur so viel verraten: Vielleicht hat der Roboter doch recht. Der Mann links spielt auf seinem Handy Schach gegen einen fernen Opponenten. Die Spanier trinken Pils. Mein Nebenmann rechts schaut in seiner Cordhose The Office und bewegt sich während der ganzen Fahrt keinen Zentimeter. Er atmet noch.

Prag also. Ich war als Student hier, als Tourist, als Vorleser aus meinem zweiten Buch. Und jetzt … als Autor und Grenzenlos-Stipendiat. In Sebalds „Austerlitz“, meiner Reiselektüre, lese ich von der bedrückenden Anfahrt des Erzählers auf London. Eine verfallene Rennbahn für Windhunde wird erwähnt, nie habe ich eine gesehen, aktiv oder aufgelassen, und just bei diesem Gedanken, am Rande des Prager Stadtgebiets, passieren wir genau so eine. Zu langsam, um ein Foto zu schießen, sehe ich Büsche, wo vormals eine Rennstrecke war, Stühle mit geborstenen Sitzflächen, zersprungene Fenster, das Wort „Greyhound“ in großen Lettern. Die Spanier trinken Pils, ich aber spüre eine literarische Verbindung, ein Zeichen.

Später finde ich im Internet keine Spur von der Rennstrecke. Vielleicht stand sie da nur für mich.

In Tschechien wird gewählt, eine starke Polizeipräsenz durchsetzt die Touristenmassen. Manche Ecken und Straßen erkenne ich von früheren Besuchen wieder. Wir schnaufen hinauf in den vierten Stock, Altbau und Parkett, ich solle mich nicht über den Gesang wundern, es befinde sich eine Musikschule im Haus, hier sei der Schlüssel. Ich rücke den kleinen Schreibtisch ans Fenster. Wo sonst könnte er stehen, als vor dieser Aussicht auf das viele Wasser der Moldau, den Buckel des Petřín, die vorbeischlendernden Touristen, von denen ich nun keiner mehr sein soll. Sondern ein vorübergehender Bewohner.

Das Wetter ist sonnig, die Stadt lockt mit großen Eindrücken und kleinen Inspirationsquellen, die meine Romanarbeit befeuern sollen. Vorher aber muss ein erster Text geschrieben werden, es ist dieser. Und irgendwo da draußen trinken die Spanier weiter ihr Pils. Sobald der Text fertig ist, werde ich gehen und mir selbst eines zapfen lassen.

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