Der Autor

Roman Israel (* 1979 in Löbau) ist von Mai bis Juni 2017 für zwei Monate Stipendiat in Prag. 

Der freie Schriftsteller aus Leipzig schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Theaterstücke und macht Filme.

Er veröffentlichte außerdem in Zeitschriften wie Macondo und Belletristik sowie in Anthologien (Jahrbuch der Lyrik, Neubuch). Einige seiner Texte wurden ins Englische, Polnische, Ukrainische, Tschechische und Sorbische übersetzt. Roman Israel liest für die Lesebühnen SAX ROYAL und BOOK BROTHERS in Dresden und Leipzig und ist Mitglied im Schriftstellerverband Sachsen.

2014 erschien sein Romandebüt "Caiman und Drache" (°luftschacht).

Im Herbst 2017 wird sein neuer Roman "Flugobst" im Wiener °luftschacht erscheinen.

Im Internet: www.romanisrael.dewww.romanisrael.de
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© Jörg Singer

Blog

| Roman Israel | Rubrik: Panorama | 14.7.2017

Praha bez alkoholu – Kennst du?

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Als ich mir die Blogeinträge der anderen Autoren durchlese, fällt mir auf, dass es sehr, sehr viele Prags gibt, nicht nur eines. In jedem meiner Kollegen und Bekannten scheint diese Stadt ein anderes emotionales Feuerwerk hervorzurufen. Jeder der schon einmal in Prag gewesen ist, hat hier seinen speziellen Ort, an den er sich zurückerinnert, und jeder hat seine eigene persönliche Praggeschichte parat, die meisten erinnern sich sogar noch sehr genau an ihre Erstbegegnung mit der Stadt. Meine Erstbegegnungsgeschichte geht so: Ich war als Kind ziemlich oft mit meinen Eltern hier und kannte Prag bisher ausschließlich von seiner Regen-Seite, weil meine Eltern damals davon überzeugt waren, dass sich Städtereisen grundsätzlich nur bei Regen lohnten – wenn es schön war, ging man schließlich wandern. Das war noch vor der Wende. Prag war damals für uns das Tor zum Westen, zu einer Zeit als es den Westen noch gab. Hier aß ich meinen ersten Hot-Dog und trank meine erste Coca-Cola. Hier fand ich Gefallen an Pommes Frites und Hitschler-Kaugummi. Hier quetschte ich mir meinen Daumen in einer Kaufhaustüre ein, als ich ihn versehentlich (naja, ich war noch Kind) zwischen Tür und Angel legte und die Tür zufiel (soll vorkommen!). Hier trug ich einen dicken Daumenverband und darüber eine schützende Kappe aus Leder und spazierte damit wie ein Pirat durch die Stadt. Hier betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Synagoge. Hier wurde 1990 der Lada unseres Nachbarn geklaut. Hierher fuhr ich viele Jahre später mit meiner ersten großen Liebe, um auf den Spuren Kafkas zu wandeln (auch da regnete es). Hierher fuhren wir auch, als es zu Ende ging mit uns und wir irgendwo in der Altstadt ein Abschiedsgulasch mit Knödeln aßen (da regnete es Tränen und die Knödel waren nass).

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Und heute? Als ich ankomme, ist es kalt und natürlich regnet es. Kein gutes Ausgehwetter. Das gibt mir aber die Gelegenheit, mich erstmal mit der Prager Stadtgeschichte auseinanderzusetzen (hatte ich bisher noch nicht gemacht), also rein theoretisch von meinem neuen zu Hause aus. Was wäre Prag ohne seine Geschichte? Genauso scheinen auch die meisten Touristen zu denken, die hierher kommen und sich die Bäuche mit Bier aufblasen. In diesen ersten Tagen hatte ich also genügend Zeit meinen Aufenthalt für die Zeit nach dem Regen zu planen und erstellte eine elfseitige Prag-to-do-Liste, die gar nicht mehr aufzuhören schien. Und mit jedem Fensterblick von meiner schönen Unterkunft auf den Hradschin hinüber wurde meine Liste länger. Ich fraß mich durch sämtliche Wikipediaartikel über Prag (auch die Englischen) und sah mir eine Doku nach der anderen an – vom Prager Frühling bis zum Fenstersturz –, bis das Datenvolumen meines Internetanschlusses erschöpft war und ich meinen analogen Stadtführer zu Rate ziehen musste, in dem ich seltsame Sätze fand, u.a. folgenden: In deutscher Sprache finden sich an den Prager Kiosken einige deutsche Zeitungen, fast immer das "Neue Deutschland", zuweilen auch die kommunistische Wiener "Volksstimme". Ich sehe im Impressum nach: Mein Reiseführer war von 1989 ... Aha. Mittlerweile auch Geschichte.
Als das Wetter sich dann besserte, beschloss ich meine Liste dann doch erstmal beiseite zu legen (dafür war später noch genügend Zeit) und mir Prag durch Blind Runs zu erschließen. Einfach losgehen, beobachten, was da ist, Dinge auf mich wirken lassen, erstmal kein Augenmerk auf Geschichte, für die ist später noch Zeit. Augenmerk aufs heute richten, aufs Jetzt. Die Stadt entdecken ohne „Ballast“ im Hinterkopf. Einer Stadtangestellten an der Moldau beim Schwäne füttern mit Gras zusehen. Männer in altmodischen Anzügen beobachten, wie sie in einem Café gedankenverloren Schach spielen, als hätten sie ihre Partie noch vor 1989 begonnen. Über einen vergilbten Totenschädel hinter der Frontscheibe eines Transporters auf der Slawischen Insel schmunzeln. Das Handykamerakonzert der asiatischen Touristen anhören, das klingt, als würde eine große Anzahl Menschen gleichzeitig in einen Zwieback hinein beißen. Einen Zigarre rauchenden Rabbiner, der aus einem Seiteneingang eines Wohnhauses in der Josefstadt herauskommt, mit „Hi“ grüßen. Das Prager Leitungswasser beschnuppern, das nach Chlor riecht wie im Hallenbad. Einer tschechischen Version von Reinhard Mays Über den Wolken, die im Radio läuft, lauschen. Einem Penner nachschleichen, der jeden Abend mit einer Einkaufstasche auf den Petřín-Hügel hinaufsteigt, um dort hoch oben über der Stadt die Nacht zu verbringen. Den Marihuana-Geruch, der in unsichtbaren Schwaden die Slezská-Straße entlangschwebt, einatmen, ausatmen. Den Balztanz der Hirschkäfer am Wyschehrad bestaunen ... Ein Kümmelhörnchen essen. Sowas halt. Das steht alles nicht im Internet.

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Zwischenzeitlich meldeten sich massenhaft fürsorgliche Freunde und Bekannte bei mir und gaben mir Tipps, was man in Prag auf keinen Fall verpassen sollte, wenn man schon einmal da sei (siehe Absatz 1, jeder hat seine eigene Praggeschichte). Mitnehmen, Mitnehmen, Mitnehmen! Die meisten empfahlen mir keine Bauwerke oder Museen, sondern Kneipen – legendäre Kneipen (Geh ins „Zum ausgeschossenen Auge“, da gibt’s billiges Bier, oder: geh ins „ROXY“, da gibt’s schöne Frauen, oder geh in die „Hölzerne Pfanne“, da wirst du vom Wirt mit einem Becherovka begrüßt). Ihre Fürsorglichkeit ging so weit, dass sie mich unbedingt besuchen wollten, um mich durch IHR Prag zu führen. Am Ende war mein Terminkalender brechend voll, und ich versuchte sie wieder loszuwerden, weil ich nicht IHR Prag, sondern MEIN Prag kennenlernen wollte. Als ich ihnen dann schrieb, dass sie gerne kommen könnten, dass ich aber leider keinen Alkohol mehr trinke und mich Kneipen seither langweilten, sagten alle ganz schnell wieder ab. „Prag ohne Bier? Das geht doch nicht!“ Kommt auf einen Versuch an, dachte ich und probierte es aus. Zugegeben als Abstinenzler durchs heilige Jerusalem der Malz- und Braustoffe zu wandeln, ist schwerer als gedacht. Es gleicht einer Expedition in die Antarktis, auf der man sich vorgenommen hat, Schnee aus dem Weg zu gehen, obwohl man ja dort quasi auf Schnee steht. Auch der Prager Schnee ist allgegenwärtig. Überall locken sie, die Angebote: Bier vom Fass, selbstgebraut, kühl, goldgelb wie das Krönchen auf dem Prager Nationaltheater, nicht billig, aber dauerhaft zum halben Preis! Die alkoholfreien Alternativen hören sich dagegen oft wie Folterinstrumente aus dem Mittelalter an. Es scheint, dass sie nur auf die Getränkekarte geschrieben wurden, um Abstinenzler von der Sinnlosigkeit eines Lebens ohne Gerstensaft zu überzeugen ... (ich glaube, ich mache da noch mal eine extra Geschichte draus).

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Irgendwann krame ich dann doch meine To-do-Liste wieder hervor und sehe mir die typischen Prager Musthaves an, allerdings unter einem mehr medienkritischen Aspekt. Ich frage mich z.B.: Wie viele Bilder von der Karlsbrücke bei Instagram pro Sekunde hochgeladen werden? 10 oder sogar 50? Und von der ganzen Prager Altstadt? 100/s? Keine Ahnung. Ich erspare es mir nachzuschauen. Es sind jedenfalls gefühlte 100. Ich frage mich, was später mit diesen Bildern passiert? Führen sie ein Leben als lebende Tote irgendwo im Cyberspace oder landen in einem Ordner auf dem Handy oder dem Computer? Einige davon werden gelikt oder herumgereicht, immer mit einem müden Lächeln im Gesicht: „Ja, ja, in Prag habe ich auch schon Selfies von mir gemacht!“ Würde man alle diese Bilder zusammennehmen, könnte man Prag in ferner Zukunft wahrscheinlich originalgetreu auf einem anderen Planeten wieder aufbauen, inklusive Touristen. Inklusive dem Hradschin mit seiner Sicherheitsschleuse, durch die man hindurchmuss, um von einem finster dreinblickenden Polizeibeamten mit einem „Hands up!“ nach Waffen und Sprengstoff durchsucht zu werden. Inklusive dem Fernsehturm in Žižkov und die an seinem Stiel hinaufkrabbelnden Babys, die mich an eine Szene aus dem Film „Trainspotting“ erinnern. Inklusive der Moldau mit ihren Gute-Laune-Dampfern. Inklusive der „Boatels“ mit den Sauftouristen, die die Stadt abends mit ihren Gesängen bereichern. Inklusive dem Grab des Rabbi Löw, das vor Wunschzetteln überquillt. Und dem Engländer am Hauptbahnhof, dem das Geld ausgegangen ist und der ausnahmslos jeden anbettelt, ihm Geld für seine Rückfahrt nach Birmingham zu geben. (Scheinbar gibt ihm nie jemand etwas, denn zwei Monate nach meiner Ankunft steht er immer noch dort.) Inklusive dem Prager Essen: Gulasch, gebratener Käse, Zwiebelringe. Inklusive dem so anderen Geruch der Frauen hier, die mehr Zimt, mehr Blume, mehr Parfüm im Parfüm am Körper tragen. Und inklusive der Akkordeonspieler, die Smetanas Moldau auch in einer Heavy-Metal-Variante spielen können …

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Das war mein Prag. Und was meine Augen nicht gesehen haben, hat mein Handy gesehen ;) und es hier dokumentiert: https://www.instagram.com/caiman_drache/ Unter dem Hashtag #romaninprag gibt es alle Bilder auf einen Blick. Das war also mein Prag. Und wie sieht Ihres aus?

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