Prag - Die tschechische Hauptstadt verdankt ihren festen Platz auf der Kaffeehaus-Karte Europas der Zeit zwischen Belle Époque und dem Zweiten Weltkrieg.
Auch wenn erste große Kaffeehäuser bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Betrieb aufnahmen, wie etwa das Café Savoy, so entwickelte sich das Kaffeehausleben erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie in Wien wurden die Kaffeehäuser auch hier allmählich zu gesellschaftlichen und kulturellen Zentren und inspirierenden Treffpunkten für Künstler und kreative Menschen.
Damals gab es Dutzende von so genannten Lesecafés, in denen in- und ausländische Tageszeitungen, Zeitschriften und Journaillen auslagen. Damit stand Prag zwar auf einer Stufe mit den Metropolen der Donaumonarchie, mit Wien und Budapest, doch der Blick richtete sich in jener Zeit in Richtung des Kaffeehaus- und Künstler-Mekkas Paris.
Die verbreitete melancholische Sehnsucht der jungen Prager Avantgarde nach Paris als dem vermeintlichen Dreh- und Angelpunkt der Welt bringt der spätere Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert (1901 - 1986) in seinem aus dem Jahr 1967 stammenden Gedicht "Café Slavia" rückblickend zum Ausdruck. Die Verehrung des Lyrikers Guillaume Apollinaire in Verbindung mit hochprozentigem Alkohol verfehlte ihre wundersame Wirkung nicht:
Dem Dichter zu Ehren wurde Absinth getrunken,
der grüner als alles Grüne ist,
und wenn wir von unserem Tisch aus dem Fenster blickten,
floss die Seine unter dem Kai.
Ach ja, die Seine!
Kde domov můj?
Wer damals als Künstler und Bohemien etwas auf sich hielt, besuchte mindestens zwei, drei Cafés am Tag - zum Lesen, Schach- und Billardspielen, zum Diskutieren und Politisieren und zum Schreiben. Welche wichtige Rolle die Rezeption internationaler Zeitschriften in dieser Zeit für das kreative Schaffen spielte, illustrieren folgende Sätze von Jaroslav Seifert: "Hier im Kaffeehaus wurde diskutiert, geplant, leidenschaftlich debattiert, und die erotische Zeitschrift La vie parisienne ging von Hand zu Hand und war nach ein paar Tagen zerschlissen wie eine Regimentsfahne nach der Bataille".
Das Café wurde so die zweite Heimat für die Prager Künstlerelite, Journalisten und Schriftsteller. Nicht weniger eindrucksvoll, wenn auch aus anderer - eben weiblicher - Perspektive, beschreibt die Prager Kaffeehausatmosphäre vor einem Dreivierteljahrhundert die Kafka-Gefährtin und Publizistin Milena Jesenská (1896 - 1944): "Im Kaffeehaus wird geschrieben, korrigiert, geredet. Im Kaffeehaus spielen sich Familienszenen ab, im Kaffeehaus wird geweint und über das Leben und auf das Leben geschimpft. Im Kaffeehaus isst man auf Pump, im Kaffeehaus wird gelebt, gefaulenzt, die Zeit totgeschlagen."
Das Goldene Zeitalter von Muße und Intellekt verewigten in ihren Werken folgerichtig Schriftsteller wie Friedrich Torberg, der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch und, in jüngerer Zeit, die als letzte noch lebende Vertreterin der deutschsprachigen Literatur in Prag geehrte, 1916 geborene und im Jahr 2008 verstorbene Prager Autorin Lenka Reinerová ("Das Traumcafé einer Pragerin").
In den Werken der literarischen Größen der Vorkriegszeit, vor allem aber in ihren Memoiren und denen ihrer Zeitgenossen, erscheint Prag als Sonnensystem der Kaffeehauskultur - das Arco, Metro, Central, Continental, Imperial, Union, Deutsches Haus, Slavia, Louvre und Savoy als seine Planeten, bewohnt von hellen Denkern und dunklen Dichtern.
Intellektuelle Schau- und Revierkämpfe
So erinnert sich etwa der Erzähler, Bühnenautor und Publizist František Langer (1888 - 1965) an das Arco, in dem sich die deutschsprachigen Dichter des berühmten "Prager Kreises" trafen: "Das Café Arco war ein elegantes Etablissement mit großen Spiegeln, hier trafen sich die deutschen Schriftsteller Franz Werfel, der damals Verse schrieb, Franz Kafka, der eine Zeit quälender Zweifel an seiner schriftstellerischen Begabung durchmachte, Max Brod und Egon Erwin Kisch, der schon damals das ganze nächtliche Prag kannte… Von den Malern kamen regelmäßig Feigl, Nowak, Kars, Justitz und andere. Das Café Arco in der Hybernská wetteiferte mit dem Café Union in drei Punkten: hinsichtlich der Künstler, des Obers und der Zahl der ausgelegten Zeitungen und Zeitschriften."
Ins Arco gingen auch viele tschechische Autoren - keine Selbstverständlichkeit, machte doch der schwelende Nationalitätenkonflikt auch vor der Eingangstür der Cafés zu jener Zeit nicht halt. Sarkastisch merkte Egon Erwin Kisch (1885 - 1948) dazu an: "Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungsvereins seine Zigarre an, ebenso wenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte."
So war das Café Continental am Graben der Stammplatz der Prager Deutschen. Egon Erwin Kisch gab den Vorzug jedoch dem im selben Gebäude nebenan gelegenen Café Central, ebenso wie "die jungen Schriftsteller und Künstler, die sich von den offiziellen deutschen Kreisen fernhielten und ostentativ im zweisprachigen Café Central verkehrten." Der Publizist und Literaturkritiker Willy Haas (1891 - 1973), der in seiner Jugend zum im Arco verkehrenden "Prager Kreis" zählte, schreibt rückblickend in Bezug auf das Nachtleben, das sie als junge deutsch-jüdische Studenten damals in Prag führten, und zu Egon Erwin Kischs sozialer Sonderstellung: "Er war in einem der schönsten alten Renaissancehäuser Prags geboren: aber in einem übel berüchtigten Winkel, dem ‘Ledergässchen’. Und er fühlte sich mehr zu den hübschen und humorvollen böhmischen Mädchen des Nachtlokals ‘Montmarte’ hingezogen als in unser Literatencafé ‘Arco’ - das kann ihm keiner verdenken. Er sprach nicht nur tschechisch wie wir: er sprach auch das Cockney-Tschechisch der Vororte."
Das Gegenstück zum Arco war die von František Langer erwähnte Kavárna Union an der Ecke Národní třída/Na Perštýně. Sie war vor allem Treffpunkt der tschechischsprachigen Intelligenz, zu ihren Stammgästen zählten beispielsweise die Čapek-Brüder und der Autor des "Švejk", Jaroslav Hašek. Bildende Künstler, Schriftsteller, Architekten, Redakteure und Kritiker gingen hier ein und aus und trafen sich zu intellektuellen Revier- und Schaukämpfen. Wer sich als Neuling in die Diskussionskreise und auf das Territorium der "Unionka" wagte, musste sich gegen den Argwohn und die Arroganz der etablierten Stammgäste durchsetzen, wie sich František Langer erinnert:
"Mancher betrat diese Kaffeehauszimmerchen in der Überzeugung, er sei berechtigt, darin Platz zu nehmen. Aber er wurde zunächst, noch aus der Ferne und höflich, von allen beäugt, verhört und daraufhin abgeklopft, was er in sich hatte und was er leisten konnte. Dann bemerkte er, dass man sich entweder mit der Zeit an ihn gewöhnte und er also aufgenommen war oder dass ihm keiner mehr eine Frage stellte, sich nicht um ihn, seine Aussprüche und Ansichten kümmerte, bis er schließlich selbst erkannte, dass er nicht hierher gehörte, und wegblieb. In seinem Urteil waren dann die Künstler aus dem Café Union aufgeblasene Gesellen, die von sich eine zu hohe Meinung hatten."
Am Wenzelsplatz wiederum befanden sich damals zwei große Cafés, die beide Räumlichkeiten mit Billardtischen hatten, nämlich auf der einen Seite das Boulevard und gegenüber auf der anderen Seite das Luxor. In den 30er Jahren, nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland bis zur deutschen Besatzung 1939, waren diese beiden Cafés ein beliebter Treffpunkt der zahlreichen deutschen antifaschistischen Emigranten, die in der demokratischen Tschechoslowakei einen Zufluchtsort gefunden hatten und sich hier gern zum Billard trafen, wie sich Lenka Reinerová in einem Gespräch mit Radio Prag erinnert.
Devětsil - Kraftzentrum Kaffeehaus
Das heute sicherlich bekannteste Prager Café ist das Slavia an der Moldau. Doch woher genau eigentlich sein unbestrittener Ruhm herrührt, ist nicht ganz klar. Lenka Reinerová hielt das Slavia jedenfalls für "heute berühmter und renommierter" als es zu ihrer Zeit war. So habe das Slavia jedenfalls kein so streng profiliertes Gästeprofil gehabt, wie die bereits genannten Kaffeehäuser.
Dank seiner Lage gegenüber dem Nationaltheater wurde es vom Theaterpublikum vor oder nach den Vorstellungen besucht, ebenso war es ein beliebter Treffpunkt für die Schauspieler des Theaterensembles. Auch Literaten und Künstler gingen hier ein und aus, wie zum Beispiel die Čapek-Brüder oder der eingangs zitierte Jaroslav Seifert. Für die Mitglieder der avantgardistischen Künstlervereinigung "Devětsil" (Neunkraft), die der Kultur in der Tschechoslowakei zwischen den Kriegen wichtige Impulse verlieh, war das Slavia beliebter Treffpunkt und Stammcafé (Bild rechts: Collage von Karel Teige).
Der Schriftsteller Ota Filip hat dem Café Slavia gar literarisch ein Denkmal gesetzt: In seinem gleichnamigen, 1985 erschienen Roman ist es die Bühne für seinen Helden Nikolaus Graf Belecredos und dient als Aussichtspunkt auf die wechselvolle tschechische Geschichte.
Dennoch vermutet Lenka Reinerová, dass das Slavia seinen heutigen Ruf wohl eher den Zeiten verdankt, als hier Václav Havel seinen Dissidenten-Stammtisch hatte, ebenso wie die Studenten der nebenan gelegenen Filmhochschule FAMU, die ihren Platz im hinteren, der Moldau zugewandten Seite des Cafés hatten.
Ein Besuch im Slavia jedenfalls sei, wenn sie Gäste aus Deutschland habe, für diese ein absolutes Muss. Und wie Lenka Reinerová einräumt, bereite selbstverständlich auch ihr als Ur-Pragerin, der Blick auf das Ensemble aus Moldau, Karlsbrücke und Hradschin "bei einem guten Kaffee ein großes Vergnügen".
Prager Kaffeehauskultur heute: Renaissance zwischen Tradition und Moderne
Nicht alle großen Cafés der Vorkriegszeit bestehen durchgehend bis in unsere Tage. Immerhin haben einige überlebt, andere wurden wieder zum Leben erweckt. Eines ist das Café Savoy am Kleinseitner Ufer der Moldau gegenüber dem Nationaltheater. Ein anderes ist das Café Louvre in der Nationalstraße (Národní třída) - vielleicht das einzige existierende Kaffeehaus der Stadt, das Franz Kafka mit Recht zu seinen Gästen zählt. Ebenfalls liebevoll restauriert und zu neuem Leben erweckt wurde das Grand Café Orient, eine einzigartige Perle kubistischer Architektur im "Haus zur schwarzen Mutter Gottes".
Von den meisten Etablissements blieb aber nichts. Oder nur der Name: So beherbergt das einst berühmte Arco heute die Kantine des Polizeipräsidiums von Prag-Mitte; das Deutsche Haus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Slovanský dům (Slawisches Haus) umbenannt und Ende der 90er Jahre in eine moderne Einkaufs- und Büropassage mit Multiplexkino verwandelt. Im Palác Luxor am Wenzelsplatz befindet sich heute die größte Buchhandlung des Landes und wo sich in der altehrwürdigen Unionka einst tschechische Intellektuelle die Klinke in die Hand gaben, gehen heute “aufgeblasene Gesellen” in Nadelstreifen ein und aus - in dem modernen Glaspalast gegenüber dem Kaufhaus Tesco befindet sich das Verwaltungszentum einer Bank.
Neben den heute legendären Häusern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es natürlich auch unzählige neue Cafés, so dass Prag es in dieser Hinsicht wieder mit jeder europäischen Metropole seiner Größe aufnehmen kann. Oft sind es dabei gerade die kleineren und nicht absolut zentral gelegenen Lokale, in denen die Kaffeehauskultur neu auflebt.
Internet und Wi-Fi machen Internet-Cafés den Garaus
Manche Trends erweisen sich als sehr schnell- und manchmal auch kurzlebig. Ob Telefon, Rundfunk oder Fernsehen, seit jeher hielten moderne Informations- und Kommunikationssysteme schneller Einzug in den öffentlichen Raum als in die privaten Haushalte, in denen sie auf breiter Front dann zeitverzögert eintreffen.
So auch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als allerorten Internet-Cafés wie Pilze aus dem Boden sprossen. Inzwischen jedoch sind diese in der Defensive und müssen vor allem auf touristische Kundschaft setzen, die zum kurzen E-Mail-Check oder Telefonieren über das Internet hierher kommt. Diese vom Computer dominierten öffentlichen Büroplätze hatten freilich ihrem Namen zum Trotz von jeher in der Regel weniger mit einem Café gemein als mit einer modernen Version der guten alten Post- und Telegraphenstation.
Das erste Internet-Café in Prag war übrigens die Kavárna Cyberteria in der Štěpánská-Straße, die im Dezember 1995 ihren Betrieb aufnahm, aber nur etwa ein Jahr lang existierte. Und auch das wohl schönste Internet-Café in der tschechischen Hauptstadt, in dem die Einbindung des damals noch recht neuen Mediums in eine klassische Café- und Bar-Atmosphäre wirklich gelungen war, gibt es heute nicht mehr: nämlich die 1998 eröffnete Terminal Bar in der Soukenická-Straße.
Das futuristische Interieur des zu seiner Zeit sehr angesagten und ambitionierten Ladens mit Videoverleih- und -vorführraum, Kunstbuchhandlung sowie DJ-Lounge hatte der bekannte tschechische Designer und Innenarchitekt Bořek Šípek entworfen.
Andererseits bieten inzwischen fast alle klassischen Cafés ihren Gästen kostenlosen Wi-Fi-Anschluss an, so dass man am eigenen Laptop heute im Café nicht nur in aller Ruhe schreiben und arbeiten, sondern das dort Fabrizierte gegebenfalls auch gleich noch verschicken oder publizieren kann. Oder aber man schmökert ein wenig in den Milliarden Seiten des World Wide Web, wie Jaroslav Seifert einst in der Zeitschrift La vie parisienne - was man heute dann freilich “surfen” nennt. Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch hätte diese Entwicklung sicher sehr begrüßt. (nk)