Autorenblog

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Briefe aus Prag - 6

 Samstag, 8. November 2014

Liebster,

gestern habe ich vom Verschwinden der Kaffeehauskultur geschrieben. Und vor einigen Tagen sagte ich: Kafka lebt nicht mehr hier. So wie immer bei einer Recherche ist nichts mehr vorzufinden und gleichzeitig ist alles noch da. Es kommt auf den Blickwinkel an. Wer sich auf Recherche befindet, ist ein Suchender und nimmt den Blick des Liebenden ein. Wie ein Liebender will man das Objekt der Begierde finden, verstehen, festhalten.

Briefe aus Prag - 5

 Freitag, 7. November 2014

Liebster,

der Tag begann mit der Suche nach einer neuen Glühbirne für meine Schreibtischlampe. Auf einem Sonderpostentisch beim Norma-Markt um die Ecke wurde ich nach einiger Zeit fündig. Es werde also wieder Licht.

Heute war Fototermin für die Stipendiatin des Prager Literaturhauses. Ich traf mich mit dem deutschen Fotografen Björn Steinz vor dem Hotel Century Old Town – in meiner Lesart die alte Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Kafkas Arbeitsplatz. Herr Steinz kannte zwar das Hotel und er wusste auch, dass Kafka dereinst in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt seinen Dienst tat, doch dass es sich dabei um dieses Gebäude handelte, war ihm neu. So konnte ich einem seit zwanzig Jahren in Prag Lebenden unverhofft noch etwas Neues erzählen. Das hat mich sehr gefreut, zumal er ein hessischer Landsmann ist, ganz in meiner Nähe im Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen.

Briefe aus Prag - 4

 Donnerstag, 6. November 2014

Liebster,

jetzt ist die Birne meiner Schreibtischlampe kaputt gegangen und ich sitze im Halbfinsteren, um meinen Brief zu schreiben.

Gestern Nacht hat es geregnet, der Asphalt war nass glänzend, als ich am Vormittag bei bedecktem Himmel aus dem Haus ging. Übrigens sind die Prager freundlich. Sie kommen mir gelassen vor, selbst in vollen Metrozügen und überfüllten Straßenbahnen während der Rush-Hour. Jüngere stehen in öffentlichen Verkehrsmitteln wortlos auf, wenn Ältere einsteigen. Niemand hetzt die Fußgängerzone entlang. Ich blicke nicht sehr häufig in leere, abwesende Gesichter. Die Autofahrer halten tatsächlich am Zebrastreifen, wenn man als Fußgänger hinüber will. Sie bremsen auch aus voller Fahrt. Das bin ich aus dem hektischen Deutschland nicht mehr gewöhnt.

Briefe aus Prag - 3

 Mittwoch, 5. November 2014


Liebster ,

um den Mitlesenden zu erklären, warum es sich um Briefe handelt, die öffentlich werden, sei Folgendes gesagt: Kafka war ein großer Briefschreiber. Neben seinen Erzählungen, Tagebucheinträgen und Romanen, hat er sehr viele Briefe hinterlassen. Durch seine Briefe an Felice und an Milena wurden diese beiden Frauen weltberühmt und werden bis heute mit ihm in einem Atemzug genannt. Daneben gibt es seine Briefe an die Familie, die Schwestern – und den berüchtigten Brief an den Vater, der Eingang in die Weltliteratur gefunden hat. Auch Milena Jesenská, die tschechische Journalistin, deren Leben und Werk Teil meiner Recherche ist, war eine große Briefschreiberin.

Briefe aus Prag - 2

 Dienstag, 4. November 2014

Liebster,
heute war ein strahlender Sonnentag, blauer Himmel und ganz milde Luft – gegen jedes Klischee von einer nebelumwaberten Karlsbrücke, nassem Kopfsteinpflaster, Schwarz-weiß-Design und flüchtigen Schatten unter den Laternen. Ich war unterwegs im Kafka-Land. Begonnen habe ich meine Tour bei seiner wichtigsten und letzten Arbeitsstätte, dem Gebäude der ehemaligen Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. Die Fassade steht genauso, wie er sie gesehen haben muss, nur sehr viel schöner, heller, freundlicher, wie praktisch alle Fassaden Prags. (Der Reiseführer meint, zu keiner Zeit hätte man Prag so strahlend schön sehen können, so frisch gewaschen, wie heute). Hinter der Fassade befindet sich ein Hotel, das Century Old Town. In der Hotelhalle findet sich der Hinweis auf Kafka, nebenan, im Durchgang zum Restaurant, das „Felice“ heißt, hängen in Schaukästen Fotoreproduktionen von ihm und es gibt eine Vitrine mit seinen Büchern. Das Treppenhaus der ehemaligen Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt ist original erhalten, das Herzstück des Hotels.

Jutta Schubert

Jutta Schubert (*1959) studierte Theaterwissenschaften und Literaturgeschichte.

Seit 1987 arbeitet sie als Theaterregisseurin, Dramaturgin und freie Autorin von Theaterstücken, Romanen und Gedichten.

Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller im Landesverband Hessen und im PEN-Zentrum Deutschland.

2013 erschien ihr Roman "Zu blau der Himmel im Februar", welcher sich mit Alexander Schmorell, Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", und seiner glücklosen Flucht vor den Nazis auseinandersetzt.

Briefe aus Prag - 1

 Montag, 3. November 2014

Liebster,
die Buchhandlung ACADEMIA am Wenzelsplatz gibt den Käufern keine Plastiktüte mit, sondern schlägt die gekauften Bücher in sanft glänzendes Papier ein, auf dem die Fassade des Hauses abgebildet ist. Wenn man die Bücher auswickelt, sind sie wie Geschenke, die man sich selbst gemacht hat und wie bei schönem Geschenkpapier bemüht man sich, das Papier dabei nicht zu zerreißen. Das ist einer meiner ersten Eindrücke von dieser Stadt, die reich, sehr selbstbewusst und ungeheuer europäisch daherkommt, wenn man bei Wenzels berühmter Reiterstatue aus den Katakomben der Metro aufsteigt.

Etwas sagen über zwei Monate in Prag ...

Etwas sagen heißt etwas schreiben. Es ist der 1. Oktober. Anreise. Ein lange gehegter Wunsch. Und immer im Sinn “zlata Praha - das goldene Prag”. Vom Fenster meiner Wohnung aus begreife ich den Wortsinn: die Bäume an der Moldau werden in ihren Kronen zuerst goldgelb. Die Wohnung erinnert mich an meine Studentenzeit in Leipzig, an die Jahre 1985-1989. Nur dass ich Kohleheizung hatte, aber die Stufenanzahl bis zur Wohnung war wohl ähnlich. Das Arbeitszimmer hier gleicht eher dem Seminarraum.

Janna Steenfatt

Janna Steenfatt wurde 1982 in Hamburg geboren und absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, so u.a. 2009 ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, 2010 ein Aufenthaltsstipendium für das Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, 2012 ein Werkstattstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung, sowie den Limburg-Preis der Stadt Bad Dürkheim und zuletzt 2013 ein Aufenthaltsstipendium der GEDOK Schleswig-Holstein.

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