Der Autor

Lina Thiede studierte Komparatistik, Musikwissenschaft sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Saarbrücken, Bonn und Köln. Aufgewachsen in Gießen, lebt sie heute in Köln.

Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem hr2-Literaturpreis und dem Berliner Preis für Science Fiction. 

Ihr Debütroman Homo Femininus erschien 2020 im Verlag The Dandy Is Dead. 2025 folgte im Radiator Verlag ihr zweiter Roman Manchmal weißt du, was geschehen.

In Prag arbeitet Lina Thiede an ihrem aktuellen Projekt Weben in der Nacht zu arbeiten, ein Text, der dort wo die Protagonistin Tuch und Schicksal webt, Gattungen aneinander webt.

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© Kayla Meyer

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Blog

| Lina Thiede | 3.12.2025

Bis zehn

Dass November im Tschechischen so viel heißt wie fallende Blätter, das lerne ich am Neunzehnten. Listopad. Und bis zehn zählen lerne ich auch.

Jeden. Am ersten Abend war der Nebel eine dichte Wand vor den Fenstern. In den ersten Tagen sind der Nebel und seine Schwaden die städtischen Begleiter. Der Nebel schwadroniert.

Dva. Zwei Wochen, bis der erste Schnee einsetzt.

Tři. Seit meiner Ankunft habe ich zwei mal drei Bier getrunken. Was habe ich tschechisches Bier vermisst. Die Leichtigkeit, den Schaum.

Čtyři. Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich bis drei zählen. Und von fünf bis zehn. Denn die Vier bereitet mir Zungenbrüche.

Pět. An meinem fünften Tag fahren wir raus. Ins Divoká Šárka. Die wilde Šárka ist eine tschechische Sagengestalt. Aber ohne glückliches Ende.

Šest. Stehe gegen sechs Uhr auf der Karlsbrücke zwischen den vielen Tourist:innen und frage mich, ob ich auch eine bin, eine Touristin, obwohl ich nun vier Wochen hier lebe und arbeite. Eine befreundete Autorin schreibt: „Immer Autorin. Egal wann und wo.“

Und das stimmt. Sehe ich etwas, sehe ich es mit den Augen der Autorin. Höre ich etwas, höre ich es mit den Ohren der Autorin. Doch wenn ich spreche, sind es selten die Worte der Autorin. Nur wenn ich schreibe, bin ich eine. Da fügt sich alles Gesehene und Gehörte zusammen und schält aus all den Gedanken über Touris und Wörter: Sätze.

Sedm. Nach einer Woche ruft Oma an und fragt, wie es ist. Ich erzähle ihr, dass ich, wenn ich gut werfen könnte, vom Fenster aus die Moldau treffen könnte. Oma sagt, da oben im vierten Stock erreiche mich das Hochwasser ja nicht, sollte es welches geben.

Osm. So viele Umarmungen schuldet mir der Ehemann. Mindestens. Ohne Umarmungen lässt sich besser über Umarmungen nachdenken. Diesen kurzen, intimen Augenblick, in dem Menschen versuchen, eins zu sein. Wir pressen unsere Körper aneinander, legen die Arme umeinander, die Kinne auf die Schultern, die Wangen an die Ohren. Für den Moment sind wir einseitig taub, spüren Wärme, vielleicht Atem, haben zwei Münder in diesem Moment und vier Arme, vier Beine, werden etwas Übermenschliches, aber keine Spinne, kein Monster, nur ein Wir. Und dann lassen wir uns wieder los. Doch die Hände, die halten einander noch, wenn wir weitergehen.

Devět. Stelle den Unterschied zwischen Tourist:innen und Einwohner:innen fest: Erstere verhalten sich so, als würde die Stadt ihnen gehören. Letztere gehören hier hin.

Deset. So oft schaue ich pro Stunde aus dem Fenster. Auf die Moldau. Auf die Stadt.

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