Der Autor

Lina Thiede studierte Komparatistik, Musikwissenschaft sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Saarbrücken, Bonn und Köln. Aufgewachsen in Gießen, lebt sie heute in Köln.

Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem hr2-Literaturpreis und dem Berliner Preis für Science Fiction. 

Ihr Debütroman Homo Femininus erschien 2020 im Verlag The Dandy Is Dead. 2025 folgte im Radiator Verlag ihr zweiter Roman Manchmal weißt du, was geschehen wird.

In Prag arbeitet Lina Thiede an ihrem aktuellen Projekt Weben in der Nacht, ein Text, der dort wo die Protagonistin Tuch und Schicksal webt, Gattungen aneinander webt.

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© Kayla Meyer

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Blog

| Lina Thiede | 23.12.2025

Vier oder Was ich noch nicht begreifen kann

Manche Bäume glauben noch an den Herbst.

 

Wie die Moldau vom Wehr fällt.

Wie das Licht auf ihr Fallen fällt.

Wie die Möwen und Gänse sich auf ihr treiben lassen.

Wie sie segeln und warten und landen; gelassen.

 

Kerben im Wasser.

Letzte Nacht hat es geregnet und ich sehe es der Moldau an.

 

Wenn du versuchst, vieles zu erklären, zu beschreiben, stellst du schnell fest, wie wenig sich eigentlich erklären lässt. Wie selten das Gefühl aufkommt, etwas verstanden zu haben. So ganz und gar.

 

Der Ehemann schreibt, die Zimtschnecken seien fertig. Ich antworte, ich wünschte, ich könnte dasselbe über das Buch sagen. Ich meine es so und auch wieder nicht. Ich mag mein Buch und das Rezept, dem ich versuche, zu folgen. Ich mag, wie ich für alles verantwortlich bin und gleichzeitig, will ich das Ding endlich in den Backofen schieben und zusehen und abwarten und die Arbeit dem Ofen überlassen.

Der Ehemann sagt, ich könne das nicht vergleichen. Er sagt, wenn man es vergleichen würde, dann wäre das, als hätte er das Getreide selbst ernten und mahlen müssen.

Ich weiß nicht, ob der Vergleich passt, aber ich sehe mich gern am Mühlstein. Und an der Sense auch.

 

Vom Fenster aus sehe ich die Moldau und ihre Brücken und ihren Nebel und ihre Wehre.

Und die Vögel, immer wieder die Vögel. Hier oben vorm Fenster, dort unten im Wasser.

Wir schreiben, was wir nicht verstehen, und Wasser und Vögel sind immer ganz vorne mit dabei. Vielleicht hat, wer Vögel und Wasser begriffen hat, die Welt verstanden.

 

Ich hätte gedacht, dass ich mich in Prag mehr Kafka widme, aber tatsächlich sind es Smetana und Dvořák.

Ich gehe in die Oper. Rusalka. Von Dvořák. Wie immer zu Beginn Stimmengewirr und Instrumentengewirr zugleich. Bis das Licht ausgeht.

An diesem Abend lerne ich, was Hexe heißt: Ježibaba. Und die Hexe hext, čáry máry fuk!

 

Ins Ballett gehe ich. Ich habe Blut geleckt, sage ich zu einer Freundin. Ich will auch das Nationaltheater von innen sehen. Den Prunk, den Samt. Sie tanzen zu Schnittke, zu Britten, zu Mahler. Ich kann das Quietschen der tanzenden Füße auf dem Bühnenboden hören.

Ich bewundere diese Perfektion im Einzelnen, im Gemeinsamen. Bis in die Finger- und Zehenspitzen, bis in die Wangenmuskeln.

Wenn ich schreibe, dann sitzt die Perfektion (oder das Streben danach) in jeder Seite, jedem Absatz, jedem Satz, jedem Wort, jedem Punkt. Jeder Pause.

Den Rhythmus haben wir gemeinsam. Und die Geschichte. Und das Leid.

Meine Verletzungsgefahr ist niedriger, die körperliche. Ich muss zuerst meinen Geist schützen und dehnen und lockern und aufwärmen. Damit er in alle Richtungen streben kann. Damit er sich drehen, auf dem Kopf stehen, und auch auf den Zehenspitzen verharren kann. Manchmal springt der Geist. Und er mag es, hin und wieder angehoben oder geschoben zu werden.

 

Im Kavárna Slavia. Trinke schwarzen Tee mit Milch und Honig und lausche dem Pianisten. Könnte ewig hier bleiben, in der Tasse rührend, Musik hörend.

 

Im Museum. Ich sehe viele Verkündigungen Marias. Aber nur eine, bei der ich den erstaunten, skeptischen Gesichtsausdruck nachvollziehen kann. Ich bleibe so lange, bis ich freundlich zum Ausgang eskortiert werde.

 

Die Wochen verfliegen. Zeit fürs Vermissen ist nur zwischen drei und sechs, wenn der Ehemann nach Hause fährt und wie immer meine Nummer wählt. Wenn er erzählt, während er im Stau steht, und ich erzähle, während ich auf die Moldau schaue.

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