Der Autor

Martin Piekar (*1990, Bad Soden am Taunus) ist ein deutschsprachiger Lyriker. Er studierte Philosophie und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Piekar erhielt zahlreiche Prestigepreise. Er wurde Jahresgewinner des Bundeswettbewerbs und Laureat der Förderpreis des jungen Literaturforums Hessen und Thüringen, der hr2-Literaturpreis, der Atta-Troll-Superpreis für radikale Ideologiekritik und Sonderpreis für Lyrik beim Nordhessischen Autorenpreis.

Martin Piekars Poesie überschreitet interkulturelle Grenzen, setzt sich emotional mit Persönlichkeitsentwicklung auseinander und erforscht die Möglichkeiten der Subjektivität im politischen Raum.

Im Rahmen des Stipendienprogrammes des Prager Literaturhauses in Kooperation mit dem Hessischen Literaturrat verbringt er seit Mitte Juni 2021 einen Monat in Prag.

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© Ramune Pigagaite

Blog

| Martin Piekar | Rubrik: Kultur | 12.7.2021

Inzidenzen des Verschwindens

Prag ist eine magische Stadt und ich werde noch mehr über diese Metropole schreiben, doch zuerst will ich mit einem Thema beginnen, das ich eigentlich vermeiden wollte: Corona. Uuuuäääärgggh, ich weiß. Und doch, es ist mir ein Bedürfnis es zu besprechen.

Als ich nach Praha aufbreche, gibt es eine Inzidenz von 18,5 – in Deutschland ca. 17,5. Ich hätte den November 2020 in Prag verbringen sollen. Wir wissen alle, was geschehen war. Die Inzident von 700 schwimmt in meinem Bewusstsein herum; drei Mal wurde mein Prag-Aufenthalt verschoben. Nun bin ich selbst doppelt geimpft und nehme immer weniger Gefahr wahr – vor allem weniger Gefahr, jemanden anzustecken. Trotzdem möchte ich mich leicht für Unvorsicht rügen.

Beim Durchstreifen der Stadt fiel mir auf, wie viele gewerbliche Räume derzeit Leerstand aufweisen und wie viele Geschäfte ganz simpel und einfach geschlossen haben. Immer noch. Oder, wie mir auch berichtet wurde: geschlossen wurden. Diese Pandemie ist anstrengend und nervt, natürlich! Doch ich sehe gerade in Prag, wie sehr sie die Infrastruktur und das Angebot der Städte verändert. Ich bin nach Prag aufgebrochen, kurz nachdem in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main Lockerungen Anwendung fanden. Ich habe Angst heimzufahren und dann erst zu realisieren, wie viele Geschäfte, Lokale, Restaurants, Kneipen, Clubs, Bars es nicht mehr gibt. Puh. Und das gar nicht, weil ich Angst vor Veränderung habe, sondern Angst vor dem Verschwinden.

Dann laufe ich über den Platz der Alt-Stadt Prags. Die Astronomische Uhr wird vom Tod geläutet. Auf dem Boden unweit davon prangen weiße Kreuze samt Namen und Daten. Alle sind sie an Corona gestorben. (Die MIT-Debatte führe ich nur noch mit Ohrfeigen, melden Sie sich bitte an.)

Ich sehe die Namen und denke die Inzidenz von 18,5. Das sind die Gesundeten und die Toten. Wir werden die Gesundeten schon bald behandeln als wäre nichts gewesen; wir Menschen können das gut. Die Toten beginnen wir loszulassen. Ich fürchte das. Wenn wir uns nicht mehr der Toten erinnern – wer dann?

Ich sehe die weißen Kreuze und weine ein wenig, ich bin ehrlich. Ich weine ein wenig für die Namen, die noch gegen die Zeit durchschimmern. Und dann läutet der Tod die Uhr. Es ist 17 Uhr. Das Stundenglas rinnt uns durch die Hände.

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Eigentlich wollte ich an dieser Stelle aufhören. Am Vltava-Ufer (Moldau-Ufer), diskutierte ich jedoch nachts drauf mit fünf Menschen über die Corona Impfung. Eine tschechische Künstlerin merkte an, dass man bei dieser Debatte immer angeschrien wird, es wäre so emotional, das ließe sich mit nichts vergleichen, die Leute würden immer gleich so schreien. Und auch ich schrie. Wieso müssten wir so emotional diskutieren, wenn es eine individuelle Entscheidung wäre, fragte sie. Wir werden zu Antagonisten.

Einige argumentierten, dass sie sich nicht impfen lassen wollen, weil sie sich regelmäßig testen lassen. Und zu dem wollen sie keinen derartigen Eingriff in ihren Körper. Dies wäre immerhin eine individuelle Entscheidung und das solle respektiert werden. Ein Eingriff in den Körper – Ich zeigte auf die Person, auf ihr Bier und sagte: jedes getrunkene Bier ist ein Eingriff in den jeweiligen Körper.

Pro Choice – Pro Life.

Ich hüte mich vor dem Vergleich, will ihn gar nicht ziehen, aber er drängt sich mir auf. Wir diskutieren und schreien uns irgendwann an. Jemand geht kurz von dem Grüppchen weg, weil die Person sich mit dem Thema nicht befassen möchte. Weil die Emotionen überwältigend sind. Weil die Stimmen sich erheben.

Ich bin geimpft. Ich habe mich impfen lassen, um meine pflegebedürftige Mutter nicht anzustecken und niemand aus meinem Freundeskreis zu gefährden. Aber die Impfung wäre doch ein Eingriff und man könnte ja trotzdem weiterhin jemanden anstecken, werden mir als Gegenargumente entgegengebracht. Jemand merkt klug an: In unserer Zeit sind alle Wissenschaftler*innen. Was für eine Zeit, als dieser Berufsstand noch Respekt erfuhr, schwärmt diese Person. Heute nehmen alle ihr Telephon zur Hand und wissen sofort, was zu glauben ist.

Am Ende bleiben wir bei der Debatte: Individuum Vs. Gesellschaft. Es bleibt keine Antwort. (Ge)Denken wir gemeinsam. Weiße Kreuze. Daten. Inzidenzen verschwinden, und sie bereiten mir auch dabei Angst. Nur wir können all der Toten gedenken.

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