prag aktuellprag aktuell | Rubrik: Kultur, Musik | 28.10.2020
Der Dirigent Václav Talich und Smetanas Oper "Libuše" lösten in dunkelsten Zeiten Stürme der Begeisterung aus – und dank eines einmaligen Mitschnitts können wir jetzt noch einmal dabei sein / Von Michael Magercord

Prag - Gibt es Konzertaufnahmen, in denen der sich der musikalischen Darbietung anschließende Applaus fast ihr eigentliche Inhalt ist? Es musste schon gute Gründe haben, wenn in Zeiten, in denen die lange Aufzeichnung von Opernaufführungen noch sehr schwierig war, auf deren Mitschnitt dem Applaus ein bedeutender Platz auf der knappen Aufnahmekapazität eingeräumt wird. Und die lagen bei dieser jetzt veröffentlichten Aufnahme aus dem Prager Nationaltheater definitiv vor.

Das auf dem Tondokument dargebotene Singspiel gehört sicher zu den wichtigsten böhmischen Musikwerken, doch wurde die Oper Libuše von Bedřich Smetana seit ihrer Uraufführung 1881 immer und immer wieder in Prag gespielt. Dieser Mitschnitt des Werkes über den nationalen Gründungsmythos der Tschechen stammt allerdings vom 29. Mai 1939 – und damit aus einem Schicksalsmoment des Landes. Die Tschechoslowakei war bereits seit über zwei Monaten von der deutschen Wehrmacht zerschlagen, das Nazi-Protektorat Böhmen und Mähren eingerichtet. Seither wurde jede Reprise dieser Oper vom donnernden Applaus der Zuschauer begleitet. Und nicht nur das, spontan stimmten die Opernbesucher die Nationalhymne des untergegangenen Staates an: „Kde domov můj“, wo ist meine Heimat – so wie es nun achtzig Jahre später auf dieser wiederentdeckten Aufnahme nachzuhören ist.

Dieser Mitschnitt, der bei der Plattenfirma Supraphon als CD vorliegt, fand sich vor erst wenigen Jahren in dem Privatarchiv einer darauf zu hörenden Sängerin. Die Aufzeichnung lag als metallene Lackfolie vor, die wiederum von der Originalaufnahme auf einem Bandgerät der ersten Stunde anfertigt wurde. Blattnerphone hieß das Riesengebilde mit zwei großen Spulen, auf denen für damalige Verhältnisse die enorme Dauer von dreißig Minuten direkt aufgezeichnet werden konnte. Die Bänder lagerten bis 1941 beim Tschechischen Rundfunk und wurden dann – vermutlich auf Druck der Zensoren – überspielt. Dank einer unmittelbar nach dem Konzert angefertigten Kopie für die Sängerin sind Ausschnitte aus dem dritten und letzten Akt erhalten geblieben: dreißig Minuten Originalton aus dem Jahr 1939, davon über fünf Minuten Applaus, unterbrochen einzig vom Gesang der Hymne.

In gewisser Weise hatte das Publikum damit die ursprüngliche Version des Komponisten zur Aufführung gebracht. Der hatte nämlich zuerst daran gedacht, das böhmische Heimatlied aus dem Jahr 1834 als Abschluss vom Chor singen zu lassen, hat es aber aus dramaturgischen Gründen bei den letzten Versen der Libusa belassen: „Der Tschechen Volk wird niemals untergehen, der Hölle Schrecken wird es glorreich überwinden“. Doch nun fügte das Publikum von sich aus jenes Lied daran an, das mit ihrem Gründungstag am 28. Oktober 1918 Nationalhymne der Tschechoslowakischen Republik geworden war.

Übrigens war diese Reprise der Libuše unter dem Dirigenten Václav Talich eine ihrer letzten im besetzten Böhmen und Mähren, kurz darauf wurde ihre öffentliche Aufführung von den Okkupanten verboten. Dem heutigen Musikliebhaber bietet sich mit dieser Aufnahme zudem die einzige Gelegenheit, das Operndirigat des legendären Musikchefs des Nationaltheaters zu hören. Allerdings muss der heutige Zuhörer dafür große Abstriche an die Qualität machen, doch spätestens bei dem aufbrausenden Applaus fällt das Knistern und Rauschen nicht mehr ins Gewicht – wenn sich nämlich dann selbst achtzig Jahre danach immer noch eine Gänsehaut einstellt. (mm)

Weitere Infos: www.supraphon.com (Hörbeispiele) Themen: Musikkritik, Bedřich Smetana, klassische Konzerte
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