Prag - Schon vor dem vergangenen Winter hatten die tschechischen Musiker Jan Martiník und David Mareček den Liederzyklus «Winterreise» von Franz Schubert eingespielt und seither etliche Kritikerpreise errungen – Na dann: auf zum winterlichen Ausflug in die heimische Fremde.
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus… Die ersten beiden Zeilen aus dem Gedicht „Gute Nacht“ von Wilhelm Müller spiegeln das Weltgefühl der Romantik wider. Fremd bleibt der Mensch in der gegenwärtigen Welt, auf der er nur ein kurzzeitiger Gast bleibt. Das Lied um den einsamen Wanderer, der aus dem Dorf, in dem er einen Frühling und Sommer verbracht hatte, ausgezogen ist in die winterliche Landschaft, bildet den Anfang des Liederzyklus von Franz Schubert aus dem Jahr 1827. Und selten fühlt man sich in dem Verlorenheitsgefühl so geborgen, wie beim Hören dieser Aufnahme des tschechischen Bass-Sängers Jan Martiník und Pianisten David Mareček.
Ach je, das bittersüße Gefühl vom Weltschmerz... Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe hatte für diese Art der Poesie und ihre Poeten nur Spott übrig: „Sie schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett“. Aber Geheimrat Goethe war da schon ein älterer Herr, und die junge Generation litt nun einmal am Zustand der Welt. Ihr Weltschmerz war eine Rebellion gegen die politische Lage nach dem missglückten Aufbruch in eine neue Zeit im Zuge der napoleonischen Niederlage von 1815. Wenigstens in der Dichtung einsam hinauszuziehen und sich aus den herkömmlichen Lebenszusammenhängen zu lösen, galt als poetische Reaktion auf die politische Reaktion der Nachkriegszeit und ihrer Restauration der monarchistischen Ordnung.
Goethe hatte aber – wie immer – nicht ganz unrecht, wenn er vom Krankenlager sprach: Der Dichter der Verse starb im Jahre der Vertonung, der Komponist des Liederzyklus’ nur ein Jahr später. Der eine am Keuchhusten, der andere wohl an Typhus, das man damals auch als Nervenfieber bezeichnete. Beide hatten kaum das dreißigste Lebensjahr überschritten.
Heute, wo sich ja ein wenig der Weltschmerz wieder unterschwellig in das allgemeine Lebensgefühl einnistet, kann uns das Hören dieser Lieder auch zum Troste dienen: Wird schon wieder!, mag nämlich ihre Botschaft lauten – jedenfalls, wenn man sie einsingt und einspielt, wie die beiden tschechischen Musiker. Sie haben ihre hohe Kunst in absoluter Klarheit, Ehrlichkeit und dazu mit einer geradezu wohltuenden Distanz im Ton ausgeübt, sodass die Gemütsschwere letztlich eine leichte Note bekommt. Ihre Aufnahme strahlt eine schon fast gelassene Melancholie aus – wenn die nicht genau das ist, deren wir heutige Menschen so bedürftig sind, was dann? Oder anders gesagt: Der Winter kann kommen! (mm)
Franz Schubert - Winterreise
24 Lieder nach Gedichten von Wilhelm Müller
Jan Martiník - Bass, David Mareček - Klavier
Bestellnummer: SU 4243-2
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