prag aktuellprag aktuell | Rubrik: Kultur, Musik | 15.10.2022
Zwei CDs völlig verschiedener musikalischer Richtungen begleiten die Geschicke der Tschechischen Republik: Moderne Klassik und Bigband Jazz als Geschichtsmaterial / Von Michael Magercord

Prag - An einer Jahreszahl kommt man nicht vorbei, wenn Rückschau auf die jüngste und jüngere Geschichte Tschechiens gehalten wird. Seit der Gründung der ersten Republik ist über ein Jahrhundert vergangen. Und mitten drin zwischen damals und heute lagen die Ereignisse, die immer noch ihre große Wirkung auf die Seele in Böhmen und Mähren und sicher auch darüber hinaus haben.

1918 wurde die Erste Republik gegründet, 1939 zum Protektorat erniedrigt, 1945 wiedergegründet, 1949 zur sozialistischen ČSSR und dann, im fünfzigsten Jahr, kulminierte die Freiheits- und Reformbewegung des Prager Frühlings in den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts. Dass der Wandel der Geschichte einen erheblichen Einfluss auf unser Leben hat, sind wir gerade wieder dabei, neu zu erlernen. Und eine wechselvolle Historie bringt Lebensgeschichten hervor, die sinnbildlich für ihre Epoche stehen können.

Der Komponist Karel Husa wurde 1921 in Prag geboren. Er wollte eigentlich Ingenieur werden, doch 1939 wurden die höheren Schulen von den deutschen Besatzern geschlossen. Die Musikschule aber nicht, der Freizeitmusiker studierte Komposition, vollendete seine Ausbildung 1947 in Paris und ging, als die Tschechoslowakei schließlich sozialistisch wurde, in die USA als Professor für Musiktheorie. Im August 1968 hörte er im Radio von der Invasion seiner Heimatstadt Prag und antwortete auf diesen Schock auf seine Weise: in sechs Wochen komponierte er die „Music for Prague“, eine Orchestersuite in vier Sätzen für Blasinstrumente und Schlagwerk.

Stücke, die sich ganz einem Thema widmen, sind Programmmusik. Und das Programm von Karel Husa ist die Geschichte der tschechischen Nation, die ja nicht immer nur eine glückliche war, wobei das 1968 auch für einen hoffnungsvollen Moment steht, der wegen seines jähen Endes umso schmerzlicher erscheint. Das Orchesterwerk besteht aus vier Sätzen, jeder hat seine eigene Bedeutung. Zunächst erklingen die Fanfaren mit einem Hilferuf an die Welt, immer wieder klingt dabei die alte hussitische Widerstandshymne "Krieger für Gott und das Gesetz" an. Der gespenstige Mittelteil, der die erzwungene Ruhe darstellt, mündet schließlich einen unerschütterlichen Choral. Instrumente werden zu Symbolen: Glocken stehen für das hunderttürmige Prag, Posaunen imitieren Sirenen, Oboen senden Morsezeichen, die Piccoloflöte lässt Vögel von der Freiheit zwitschern. "Ich weiß, was Freiheit ist", so der Komponist, der als 18-Jähriger Hitlers Einmarsch in Prag erlebt hatte, "und warum die Menschen dafür kämpfen."

Musikalisch bediente sich Karel Husa in tschechischer Tradition modernen Kompositionstechniken, wobei er aber im üblichen Orchesterklang verblieb. Nichtsdestotrotz wird von einer der ersten öffentlichen Aufführungen in der Stadthalle eines kleinen Städtchens in den USA berichtet, dass das Publikum doch etwas überfordert gewesen sei von der direkten und auch phasenweise ruppigen Musiksprache. Als die "Music for Prague" aber kurz darauf bei einem Musiklehrerkongress erklang, löste es unter den Musikern und Pädagogen die beabsichtigte Erschütterung aus: "Es war wie ein Erdbeben", wird ein Zuhörer in zeitgenössischen Quellen zitiert: "so etwas haben wir bisher noch nicht gehört, man fühlte beinahe, wie die Panzer rollen".

Ende der 1960er Jahre wurde die USA von den Ereignissen in Vietnam aufgewühlt, der Prager Frühling war ein weiterer Anlass zur Sorge und Diskussion. Auf der Höhe des Kalten Krieges konnte das Musikstück hohe Aufmerksamkeit erlangen und bis heute über siebentausend Aufführungen verbuchen, was für ein Werk der modernen Musik eine beachtliche Zahl ist. Für den Komponisten war wohl das Konzert am 13. Februar 1990 in Prag das bedeutendste, als er im Smetana-Saal sein eigenes Werk zweiundzwanzig Jahre nach seiner Entstehung mit der Tschechischen Philharmonie als Dirigent erstmals am Ort des Geschehens aufführen konnte.

Damals begann nach dem Ende des Sozialismus eine neue Epoche in der Geschichte der Tschechen und auch sie bedarf der musikalischen Untermalung. Daran hat sich der Bigband-Musiker Tomáš Sýkora gemacht und der Zeit der Präsidentschaft von Václav Havel einen Bläsersatz gewidmet. Dieses schöne Stück einer alles in allem glücklichen Zeit findet sich auf der CD "100 Years", mit der sechs junge Jazzmusiker jeweils einer der sechs ausgemachten historischen Epochen eine Komposition gewidmet haben, von der Ersten Republik über den Krieg, Besatzung und Sozialismus, die Normalisierung nach 1968, die Havel-Jahre bis in die Zeit nach dem Beitritt zur EU. "The Prague Six", allesamt gestandene Bigband-Arrangeure, spielen ihre Einzelstücke mit dem "Concept Art Ochestra" ein, finanziert wurden die Aufnahmen teils über Crowdfunding.

Eine große Jazzorchester-Suite ist entstanden, Originalmitschnitte von Reden oder Musik läuten die jeweiligen Zeitenwenden ein. Der erste Präsidenten der Ersten Republik, Tomáš G. Masaryk, macht den Anfang und liefert ein Motto, das heute wieder an Bedeutung gewonnen haben dürfte: "Die heutigen Probleme sind nicht nur wirtschaftliche oder politische. Über allem steht die Moral: Wir müssen von jeder Form der Gewalt Abstand nehmen." (mm)

 

"Music for Prague" - Supraphon SU 4294-2

"100 Years - Země Stoletá" - Animalmusic ANI 091-2

Das ganze Jahrhundert gibt es hier:

https://animalmusic.cz/album/concept-art-orchestra-100-years

davon die Jahre der ersten Republik von 1918 - 1938 komplett:

https://www.youtube.com/watch?time_continue=32&v=TtrOZh3AtS8&feature=emb...

Themen: Musikkritik
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