Straßburg/Prag - Was haben wir auf Osteuropa geschimpft in der letzten Zeit: alles rückwärts gewandte, gesellschaftsunfähige Volksgemeinschaften ohne Mitgefühl gegenüber Dritten. Und nun? Gilt der eigene erhobene Zeigefinger uns! Warum? Weil wir genau zu dem werden könnten, was wir anderen unterstellen zu sein – ein angstvoller Fragenkatalog aus Prag.
"Kann so eine wie Le Pen denn wirklich in Frankreich Wahlen gewinnen?", lautete die Frage, die mir bei meinem letzten Besuch über die Ostertage in Prag von tschechischen Freunden und Bekannten immer wieder gestellt wurde. Und sie steht nur am Anfang einer Abfolge von bangen Überlegungen, die in Anbetracht der französischen Präsidentschaftswahl in Ostmitteleuropa angestellt werden.
Kann Marine Le Pen also tatsächlich Wahlen gewinnen? Zumindest steht sie in der Stichwahl. Das allein ist Anlass zur Frage: Wie konnte es in einem westeuropäischen Land soweit kommen, dass die Demokratie und der Rechtsstaat so massiv in Frage gestellt werden? Sind daran bloß die Araber schuld? Die wolle man ja schließlich nach Tschechien gar nicht erst hineinlassen. Und doch – dämmert es selbst im von der weiten Welt immer noch ein wenig abgeschotteten Ostmitteleuropa – kann es an ihnen nicht liegen, dass sich eine große Nation, eine ehemalige Kolonial- und damit Weltmacht zumal, einfach auf sich zurückziehen will.
Aber woran dann? Wer Frankreich aus eigener Anschauung kennt, findet keine rechte Antwort. Was meinen die Franzosen bloß, wenn sie dauernd von Krise sprechen? Oder von der sinkenden Kaufkraft? Es gibt doch alles und die meisten haben alles. Jedenfalls alles, was man braucht. Dazu noch ein relativ dichtes Netz der sozialen Fürsorge. Das hatte man ja auch mal, im Kommunismus, aber heute ist es in Tschechien auf ein Minimum zurückgeschraubt. Sozialwohnungen etwa gibt es in Tschechien gar nicht mehr. Wer hier seine Arbeit verliert und nicht über ein eigene vier Wände und am besten noch einen Garten hat, dazu etwas Ersparten oder wenigstens eine Familie, auf die er sich in der Not verlassen kann, landet ziemlich schnell auf der Straße. Und eine Krankenversicherung hat sowieso nur der, der sie bezahlen kann.
Gut, vielleicht sind die Menschen in Osteuropa ja auch gerade wegen der fehlenden Absicherung etwas kreativer, einfallsreicher und gewitzter im Umgang mit neuen Situationen und anpassungsfähiger, wenn mal wieder "Reformen" anstehen, zumal sie im Gegensatz zu den Westeuropäern bereits einen alle Gewohnheiten auf den Kopf stellenden "Regime-Change" durchgemacht haben. Das aber verlangt ja auch niemand von den Franzosen. Damals herrschte eine ganz andere Herausforderung, als die paar Reförmchen, die jetzt anstehen. Man kam aus einem Zwangsregime, das zwar – hatte man sich mit ihm arrangiert – ein ziemlich gemütlichen Leben zuließ, weshalb es ja durchaus Leute gibt, die etwas Sehnsucht nach derart einfachen Lebensverhältnissen haben. Aber bescheidene Gemütlichkeit kann keinen ganzen Menschen ausmachen, wenn der darüber hinaus keine weiteren Erfahrungen machen darf. Wieso also üben Le Pen oder Mélenchon so eine Faszination auf so viele Franzosen aus? Ausgerechnet die? Es heißt doch immer, Franzosen seien mutige Individualisten? Oder sind sie letztlich doch nur angstbesessene Egoisten?
Und was soll aus der EU werden, sollte Frankreich austreten? Okay, man muss es zugeben: begeistert sind auch die Tschechen nicht von dieser Art "Gemeinschaft". Von der NATO ja. Ihr wollten alle Staaten Mittelosteuropas sofort nach dem Ende des Warschauer Paktes angehören, schon als Schutz vor der Übermacht Russlands. Der Beitritt in die EU war hingegen eher ein notwendiges Übel. Man hatte das Gefühl, die neue Freiheit würde gleich wieder von einer anderen Übermacht einkassiert. Aber Tschechien ist nicht die Schweiz – es gab keine Wahl: Die EU-Mitgliedschaft musste einfach sein. Und es ist letztlich auch gut so. Nicht wegen der Gelder aus den Strukturfonds, davon fließt ohnedies nicht sehr viel ins Land, kein Vergleich mehr zu den Unsummen, die seinerzeit noch an Griechenland, Portugal oder Irland flossen. Nein, viel wichtiger ist die Sorge um den Rechtsstaat. Den kann man in Mittelosteuropa nämlich nur in der Gemeinschaft mit Westeuropa bewahren. Vor wem? Vor der eigenen korrupten und politisch ambitionierten so genannten Elite der Neureichen.
Fiele diese schützende Instanz etwa wegen eines Austritts Frankreichs endgültig weg, was dann? Kehrt Russlands Einfluss in vollem Umfang zurück? Zumal Marine Le Pen eine Busenfreundin und Schuldnerin von Putin ist – oder sollte man besser sagen: nützliche Idiotin des Kremlchefs? Und von denen allerdings gibt es in Osteuropa schon viel zu viele. Vor allem in der politischen Klasse, die gerne autoritärer regieren würde, als es bislang die EU zulässt, auf russische Art eben. Sogar der eigene Präsident, der Trunkenbold Miloš Zeman, gehört zu den russophilen Populisten. Der hat allerdings nicht soviel Macht, wie ein französischer Präsident, und außerdem hatte er nach der Amtszeit seines Vorgängers, dem neoliberalen EU-Gegners Vaclav Klaus, immerhin wieder die Europafahne über seinem Amtssitz, der Prager Burg, hissen lassen. Aber ansonsten kungelt er schon ganz gerne mit seinen Saufkumpanen aus der Slowakei und Ungarn in Richtung Russland.
Was passiert mit Mittelosteuropa, wenn die EU ohne Frankreich da stünde? Irgendwo zwischen dem wirtschaftlichen Koloss Deutschland und dem militärischen Koloss Russland müsste man wie schon der Zwischenkriegszeit herumlavieren. Das Ergebnis dieser aussichtslosen Bemühungen ist ja bekannt und immer noch tief im nationalen Gedächtnis eingegraben. Aber hat man in Frankreich tatsächlich schon vergessen, wie es endet, wenn man sich als bedeutende Nation in sein Schneckenhaus zurückzieht und willentlich ein Machtvakuum hinterlässt? Also bitte, Franzosen, die in Osteuropa doch immer für ihre kulturelle Offenheit vor allen anderen bewundert worden sind: Lasst uns nicht allein, nicht mit unseren Eliten, nicht mit Deutschland und schon gar nicht mit Russland! (mm)