Straßburg/Prag – Die Lage ist ernst, und das Schlimmste ist, dass alles so kommt, wie man es erwartet hat. So erging es auch dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz, als er zu den Journalisten über die Debatte am Vortag im Plenum in Straßburg spricht – und zeigt damit, wie tief die Erwartungen an das eigene Haus bereits gesunken sind.
Die Parlamentarier hatten über die von der Brüssler EU-Kommission angestrengten Rechtsstaatsprüfung der neuen Gesetze zum Verfassungsgericht und Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Medien in Polen zu debattieren. Eingeladen zu einer Stellungnahme und auch – noch zur Überraschung mancher – gekommen war die neue polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło. Und Martin Schulz hat recht, es kam, wie es kommen musste, denn zum parlamentarischen Alltag gehört es seit der letzten Wahl, dass immer Parlamentarier dabei sind, die die EU, die sie nährt, zum Teufel zu wünschen. Dass römische Katholiken es mit dem Teufel ernst meinen, durften vor allem polnische Hinterbänkler beweisen, wenn sie in altrömischer Rhetorik in den Plenarsaal riefen: die Europäische Union muss zerstört werden!
Auch der Auftritt von Beata Szydło verlief erwartungsgemäß. Denn Kreide schien die doch so streitbare Ministerpräsidentin gefressen zu haben. Oder aber sie hat den üblichen EU-Polit-Speak einfach nur gut auswendig gelernt: Ja, sie werde an dem EU-Verfahren zur Klärung der Rechtsstaatlichkeit ihrer Maßnahmen mitarbeiten und helfen, alle Fragen mit der Kommission zu klären, und ja, ein wenig sei sie doch auch enttäuscht über die haltlosen Verdächtigungen so mancher Politiker und EU-Parlamentarier gegen die demokratisch gewählte polnische Regierung.
Die Rede der Ministerpräsidentin mit ihrem beschwichtigenden Tonfall war also genauso erwartet worden, wenn auch die Gründe dafür nicht so gelagert sind, wie Martin Schulz es gerne hätte. Eine offene Konfrontation mit der EU hat Beata Szydło nämlich gar nicht nötig. Denn wenn alles nach Plan läuft, nach ihrem Plan wohlbemerkt, dann wird die groß angekündigte Rechtsstaatlichkeitsprüfung sowieso folgenlos bleiben.
Im März 2014 wurde das Verfahren aus der Taufe gehoben, damals hatte man Ungarn im Blick. Aber auch schon damals konnte die zuständige Kommissarin Viviane Reding bei seiner Vorstellung den wenigen anwesenden Journalisten nicht erklären, wohin diese Regierungsüberprüfung letztlich führen soll. Trotzdem wird man sie nun erstmals anwenden. Die zuständigen Kommissare Oettinger und Timmermans dürfen der polnischen Regierung Bedingungen stellen. Wenn sie diese nicht erfüllt, kann ihr letztlich das Stimmrecht im Ministerrat entzogen werden, ja, wenn sich denn alle anderen 27 Regierungschefs einstimmig dafür aussprechen. Doch es ist weder zu erwarten, dass diese polnische Regierung einen Rückzieher machen würde, noch würden Orban oder Fico aus Ungarn und der Slowakei – oder wer immer dort einmal die Regierung stellen wird – einem Stimmrechtsentzug Polens zustimmen.
Der Geist ist aus der Flasche
Heiße Luft also und sonst nichts passiert? Schön wär’s. Der Geist ist aus der Flasche, und es gibt nur zwei Szenarien, ihn wieder einzufangen – und beide bleiben nicht ohne Verlierer. Entweder man legt die Latte der Kriterien für einen Rechtsstaat sehr niedrig an, verhandelt ein wenig und findet schließlich eine windelweiche Formulierung im üblichen EU-Beschwichtigungsspeak, mit der alle Beteiligten irgendwie leben können. Damit aber wäre nicht nur das Verfahren zahnlos geworden, sondern der hehre Rechtsstaatsbegriff auf europäischer Ebene endgültig verwässert. Oder aber man lässt es auf eine direkte Konfrontation ankommen und der Graben, den man eigentlich zuschütten wollte, würde nur um so tiefer werden. Und zwar jener Graben zwischen West und Osteuropa, oder – wie es einst der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ausdrückte – dem „alten“ und dem „neuen“ Europa.
Dieser Teil Europas war nach den Revolutionen begeistert der NATO beigetreten, und wäre am liebsten gleich ein Bundesstaat der USA geworden, aber eben nicht unbedingt der EU. Den geografischen Realitäten mussten sich die Mittelosteuropäer schließlich beugen, aber dem EU-Beitritt haftet immer noch dieser schale Beigeschmack an, dass man keine Wahl gehabt habe. Polen, Tschechien, die Slowakei oder Ungarn verfügten nicht über die für Alleingänge ausreichende wirtschaftliche Unabhängigkeit wie etwa die Schweiz. Und galt für so manche Neueuropäer die EU anfänglich noch als Schutz vor den korrupten Eliten im eigenen Land, so nimmt man sie heute oft als Bevormundungsinstrument wahr, wofür nicht nur die EU-Vorschrift zur maximalen Kochdauer von Gulasch das Kanonenfutter geliefert hat.
Jetzt aber geht es um mehr, als gut oder schlecht durchgezogenes Rindfleisch. Es ist ein Konflikt, der auch tiefer reicht, als die vom polnischen Außenminister beklagte Vegetarisierung seines Landes durch die öffentlichen Medien. Es geht schlicht um die Frage, ob die EU eine echte Wertegemeinschaft werden will oder bestenfalls noch als lose Staatengemeinschaft vereint bleiben soll. Zur Klärung dieser fundamentalen Frage sollte man nicht denselben Fehler im Umgang mit den Ländern Ostmitteleuropas machen, wie bisher. Die Kommunikation mit und vor allem über diesen Staaten beschränkt sich darauf, bei Verweigerung der Anpassungsleistung auf ihre EU-Zahlungen zu verweisen. Nur eines macht man nicht: sich mit ihren Eigenheiten einmal wirklich zu befassen.
In diesem neuen Europa nämlich geht nach wie vor ein altes Gespenst um, das Gespenst des Kommunismus. Während man im Westen den Kampf mit dem Gespenst des sozialistischen Totalitarismus schon lange als beendet erklärt hat, wird den einstmals vom ihm heimgesuchten Gesellschaften sein Hauch immer noch verspürt. Die Worte „sozial“ oder „Solidarität“ gelten dort bestenfalls als naive Ideen, mit denen man eher Vorstellungen von Hegemonie und Bevormundung verbindet.
Die Narrative Osteuropas sind andere, als die des Westens, und ihre Ursprünge reichen weit zurück. Es sind postkoloniale Geschichten, sie rühren aus der Zeit der Nationenwerdung und Befreiung von Habsburg und Hohenzollern, und sie ziehen ihre Spuren über Moskau nun bis nach Brüssel. Ihre Geschichten erzählen von Kulturen, die sich immer von den größeren Nachbarn bedroht fühlten. Solche Geschichten handeln nun einmal eher von festen, homogenen Gemeinschaften als von dynamischen, offenen Gesellschaften. Die Grenze, die man darin zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und der Allgemeinheit zieht, verläuft anderswo als in den individualisierten Gesellschaften des Westens.
Daraus ergeben sich auf den westlichen Blick paradox erscheinende Realitäten: Einerseits ist laut OECD-Index zur Vermögensverteilung in den Staaten des europäischen Ostens gemeinsam mit Norwegen die Vermögensbalance – im Gegensatz etwa zu Deutschland – noch am ehesten gewahrt. Andererseits können die Neureichen und Einflussreichen das nationale Gemeinschaftsgefühl dazu ausnutzen, ungehindert zu Oligarchen zu werden.
Es ist wohl richtig: diese Gemeinschaften stehen sich auf dem Weg zu offenen Gesellschaften mit ihrer Vergangenheitsbezogenheit zunächst einmal selbst im Weg. Darüber mag so mancher im alten Europa seinen neunmalklugen Kopf schütteln und östliche Modernisierungsrückstände ausmachen. Doch wohin wird es führen, die fundamentalen und mentalen Unterschiede nicht zur Kenntnis zu nehmen und stattdessen Forderungen an diese Gesellschaften zu richten, die sie nicht erfüllen wollen? Wem soll es nutzen, diese meist sehr kleinen kulturellen Einheiten dazu zu drängen, ungewollte Migration zuzulassen? Oder – wenn sie diese ablehnen – ihre eigentümlichen Empfindlichkeiten mit der Drohung von Subventionskürzungen für Landwirte versuchen zu bändigen? Das wird genau das Gegenteil bewirken: sie werden sich erst recht in folkloristisch-völkischen Wohlfühlnischen einigeln wollen und Parteien wählen, die ihnen die Bewahrung solcher Refugien versprechen, für deren Aufrechterhaltung man auch bereit ist, auf etwas vom durch die EU verheißenen materiellen Wohlstand zu verzichten.
Ein Problem der EU ist, dass man darin bislang wenig Rücksicht genommen hat auf die kulturellen und historisch gegründeten Unterschiede innerhalb dieses ziemlich komplexen Kontinents. Der Umgang mit Griechenland in der Schuldenkrise war ja etwa auch nicht gerade durch Einfühlsamkeit in lokale Gegebenheiten und Empfindungen geprägt, ein tiefgehender Respekt der Geldgeber zu ihren Gläubigern war damals im Sommer 2015 jedenfalls nicht zu erkennen. Wenn diese EU aber nun doch noch eine Wertegemeinschaft werden soll, muss man sich mit den Narrativen, in denen wir nun einmal unsere Wertvorstellungen erzählen, wenigstens einmal ernsthaft befassen – und zwar nicht nur in alle Himmelsrichtungen, sondern auch mit den eigenen Erzählungen. Denn hat die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge in Deutschland nicht auch damit zu tun, dass neben dem Narrativ von einem aussterbenden Volk, welches nun noch unter Facharbeitermangel leidet, auch die deutsche Geschichte Gründe für einen großzügigen Umgang mit Hilfesuchenden bereit hält? Gründe, die andere nicht unbedingt teilen, da sie keine derart schwergewichtige historische Schuldenlast mit sich herumschleppen?
Im Westen Europas wird sich die Zukunft Europas entscheiden
Selbstverständlich muss man das Rechtsstaatsprinzip in Europa mit Klauen und Zähnen verteidigen, aber mit Drohgebärden aus Brüssel allein wird das nicht gelingen. Vertrauen in die Widerstandskräfte der Zivilgesellschaft ist da eher angebracht, als eine zahnlose, weil politisch nicht zu Ende gedachte Rechtsstaatsprüfung, die so bestenfalls als Beschäftigungstherapie für die zutiefst deprimierte Juncker-Kommission dienen kann. Dieses Verfahren ist nur in der Lage zusammen mit der Forderung nach Flüchtlingsaufnahme die Abschottungstendenzen der östlichen Staaten noch verstärken. Und wenn man ihre Geschichte betrachtet, muss darin vor allem eine Reaktion auf äußere Ansprüche erkennen: man handelt nicht, sondern reagiert auf die Politik in Westeuropa.
Dort, im Westen Europas wird sich die Zukunft Europas entscheiden. Und die Frage, der sich die Kern- und Führungsnationen der EU nun stellen müssen, lautet: Will es die östlichen Staaten weiterhin mit im gemeinsamen Boot behalten oder abdriften lassen? Soll letzteres nicht passieren, muss es sich ebenfalls entscheiden: Will es diesen Staaten und ihren oft sehr kleinen Ländern und Kulturen erlauben, ihre Eigenheiten zu bewahren? Denn nur dann bleibt uns eine völlig nutzlose Ost-West-Konfrontation erspart, die auch Auswirkungen auf die innere Verfasstheit der westlichen Staaten haben würde. Man darf ja nicht die Augen davor verschließen, dass die Frontlinie zur Verteidigung der Rechtsstaatsprinzipien bereits auch innerhalb ihrer Gesellschaften verläuft. Der neue Ost-West-Konflikt entspannt sich zwischen einer stürmischen Avantgarde und mehr als skeptischen Bremsern. Ihr Konflikt arbeitet sich an den Vorstellungen von Gesellschaft ab und wird befeuert von sozialen Abstiegsängsten. Das in den westlichen EU-Staaten manches Mal schon ungeduldig herbeigesehnte „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ gibt es bereits. Die Zonen des reduzierten Tempos befinden sich mittlerweile überall in Europa, und zwar innerhalb aller Staaten und ihrer Gesellschaften.
Was also ist zu tun? Wie oft steht am Ende derart ellenlangen und ernsten Analysen, wie die vorstehende, ein ziemlich utopisches Rezept zur Problemlösung und dazu noch eine nebulöse Handlungsanweisung. Das wird kaum anders sein, wenn hier nun ein Aufruf zu einem offenen Dialog erfolgen wird. Ja, ein Dialog der Kulturen muss es werden, den man bislang nur über die kontinentalen Grenzen hinweg führen zu müssen meinte. Aber Narrative sind nun einmal zum Erzählen da und es wird höchste Zeit, uns unsere Geschichten einmal gegenseitig anzuhören – und vielleicht läßt sich dahingehend ausnahmsweise mal etwas vom Osten unseres Kontinents lernen, nämlich ihre auf den ersten westlichen Blick etwas eigenartige Toleranz.
Dazu braucht man eigentlich nur eine verrauchte Eckkneipe, wie man sie noch überall in Osteuropa findet und worin man eben nicht nur auf seines Gleichen trifft. Nun noch schnell mit einem Bier anstoßen und schon kann es losgehen: Jeder erzählt drauflos, hört aber auch mal zu und alle stellen fest, dass es zwar keine zwei gleiche Meinungen gibt, man sich trotzdem halbwegs gesittet zu prosten kann, weil man nun gelernt hat, worauf sich die gegenteiligen Auffassungen gründen. Solche Diskurse werden fernab der politischen Korrektheit geführt, und so manches Mal wird man seinen achtmalklugen Kopf schütteln. Geschieht es aber in gegenseitiger Achtung, bleibt meist auch die Achtung vor Dritten bewahrt.
Natürlich ist diese Art der Toleranz eine schwere Übung, zumal wenn die andere Meinung auf völlig anderen Prämissen beruht, als die eigene. Und doch muss eine solche gegenseitige Lehrstunde auf europäischer Ebene schleunigst nachgeholt werden, sonst wird das hastig unionierte Europa politisch zerfallen… zugegeben, an dieser Stelle ist der Artikel nun völlig ins Utopische abgeglitten, denn das Parlament der Europäischen Union ist – zumindest offiziell – keine Kneipe und es herrscht darin Rauchverbot.
Stattdessen kommt es wohl genauso, wie erwartet: bevor man so richtig ins Gespräch gekommen ist, werden über die Mitte hinweg die neuen Allianzen an den extremen Rändern geschmiedet von all den sich unverstanden fühlenden Verschwörungstheoretikern, die in ihren wüsten Allmachtsszenarien immer die Opferrolle einnehmen. Ihre Meinungen werden sich derart verrannt haben, dass Europaabgeordnete nicht einmal mehr der Ausrede bedürfen, besoffen zu sein, wenn sie grenzverletzende Flüchtlingsfrauen mit dem Schießbefehl drohen. Und bestimmen diese nüchternen Vogelscheuchen mit ihrem bodenlosen Unsinn, der sich auf keine zivilisierte kulturelle Grundlagen mehr berufen kann, erst einmal den Diskurs, ist die Lage ernst und jeder Versuch eines Dialoges wird scheitern. Wie bitte, es ist schon soweit? Na dann prosit allerseits… (mm)