Verschwunden ist die Unijazzbar im fünften Stock der Jindřišská-Passage, ebenso mein Supermarkt an der Ecke. Alle WGs, in denen ich 2016 gelebt habe, sind heute Airbnbs.
„Hier habe ich gelebt“ - welche Dichte von Kontinuitäten muss messbar sein, damit dieser Satz zutrifft?
Dort, wo (ein anderes, keiner gutmütig gedehnten Gegenwart mehr zuzurechnendes) „ich“ torkelnde Texte an eine Hauswand kritzelte, leuchtet jetzt Graffiti. Abzweigungen und Passagen verschieben sich, der Blickwinkel versetzt vertraute Laternenposten.
Ich habe nie verstanden, warum die Tourist*innen in Prag sich auf wenige neuralgische Punkte konzentrieren, als schleuste man sie durch parallel zur Realität verlaufende Ortsgefüge. Manche Gegend bleibt dunkel und still.
Hier kann ich in Cafés arbeiten, ohne im Geist in Gespräche verwickelt zu werden, ohne mich den Rest des Tages fragen zu müssen, ob Joan den Schlüssel denn nun rechtzeitig zu Melek gebracht hat und ob der Neffe des Nachbarn der Dame, die ihre Vanilleeiskugel mit ernstem Blick und Messer und Gabel seziert, wirklich von der Schule fliegt. An dieser Stelle könnte ich aus Roland Barthes Band „Im Reich der Zeichen“ zitieren. Es gibt dort ein Kapitel, in dem er den Luxus beschreibt, von Stimmengewirr umgeben zu sein und doch, verkapselt in Unkenntnis der vorherrschenden Sprache, bei sich zu bleiben. Leider blieb das Buch im Berliner Zuhause. Ich stelle mir die Bücher, die ich mitgebracht habe, als Ecksteine eines Energiefelds vor. In Paul Leppins „Severins Gang in die Finsternis“ erfahre ich von einer Kneipe namens „Gifthütte“, von „Nachtkaffeehäusern“ (wieder einführen, bitte!) und lese, dass dem Protagonisten ein „Schauer däuchte.“ Das Wort „däuchte“ ist verwandt mit dem heute ungebräuchlichen „dünken“. Ich frage mich, warum dieses Wort veraltet ist. Erlaubte der frühere Ausdruck mehr Ergebnisoffenheit als ein zeitgenössisches „mir scheint“, oder ist das meine persönliche nostalgische Lesart?
In meiner Unterkunft hängt der „Revolutionary Letter“ #2 von Diane di Prima, Autorin der amerikanischen Beat-Generation. Verblichene Pastellfarben auf zurückhaltendem Papier. Di Prima kannte ich nicht; nur Ginsburg und Kerouac und Burroughs. Das Paradox des Literaturbetriebs, dessen Beschäftigte größtenteils weiblich, dessen Stars vor allem Männer sind. Ich lese im Zyklus von Di Prima den Revolutionary Letter #3. Er passt in unsere Zeit der zu erwartenden Stromausfälle:
„store food — dry stuff like rice and beans stores best
goes farthest. SALT VERY IMPORTANT: it’s health and energy
healing too, keep a couple pounds
sea salt around, and, because we’re spoiled, some tins
tuna, etc. to keep up morale — keep up the sense
of ‘balanced diet’ ‘protein intake’ remember
the stores may be closed for quite some time, the trucks
may not enter your section of the city for weeks, you can cool it indefinitely“ (Diane di Prima, Revolutionary Letter #3)
Im Regal finde ich ein altes Tagebuch von Isabella Feimer. Zögerlich bewege ich mich in einer schmalen Schneise, zwischen den Spuren der anderen vor mir, durch die sichtbaren und versteckten Unebenheiten der Wohnung. Ich sage jetzt nicht „Geister“, ich sage „Rest“. Vielleicht verfingen sich unsere Gedanken am selben Splitter in der Holzvertäfelung, wie sich manchmal Blicke treffen; am Rand eines Aschenbechers.
Eine Kammer der Küche ist verschlossen, ich frage mich, wer dort wohnt.
In Lutz Seilers Roman, „Stern 111“, heißt es: „Weil er sich weigerte, nach den Gepflogenheiten der Wohnung zu leben, geschahen immer öfter Missgeschicke (…).“ Ich passe mich an, versuchsweise.
Am 33. Jahrestag der Samtenen Revolution gehe ich durch die Stadt. Auf die Demonstrationen für Erinnerung und Demokratie begleitet mich der Zweifel, ob meine Anwesenheit an kulturelle Aneignung grenzt, aber zu Hause am Schreibtisch den Tag, zerstückelt durch verschiedene Reproduktionskanäle, zu verdauen, fühlte sich falsch an. Also halte ich mich neben dem Zug, am Straßenrand.
Auf der Národní třída (deutsch: Nationalstraße), neben Ausstellungsbannern über die Niederschlagung der Studentenproteste an diesem Ort im Jahr 1989; ein ausgebranntes Autowrack, mit Grablichtern bestückt. Die zugehörige Infotafel erzählt vom Mechaniker Petr D., der den Wagen zur Panzerblockade benutzte; beim Einmarsch der russischen Armee. Die Begebenheit aus dem ukrainischen Irpin 2022 ist als Teil des Projekts „Memory of Nations“, ins Herz der Feierlichkeiten um das Samtene Revolutionsjubiläum gebettet.
Von Prag aus fuhr ich im September 2016 mit zwei Freund*innen zum Internationalen Literaturfestival in Odessa. Funkelnde Hotels, Kaffee aus Kofferräumen und ein Interview mit dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš, zu seinem Roman „Národní třída (Nationalstraße)“, dessen deutsche Übersetzung in jenem Jahr erschienen war. Im Stambul’s’kyy Park prasselten Kastanien vor unsere Füße.
Am nächsten Tag fällt Schnee.