Am 11. Juli 2016 steige ich am hlavní nádraží aus dem Zug und ziehe den Koffer durch die Bahnhofshalle. Ich bin Gast, Artist in Residence, ein Schriftsteller aus Wien. Durch die offenstehende Tür wehen mir Zeitungsfetzen entgegen und verfangen sich in den Rollen meines Koffers.
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Prag, und dass damals, Anfang der 90er Jahre, die Himmelsrichtungen noch nicht zu stimmen schienen. Ich hatte die ersten 14 Jahre meines Lebens in der Monotonie eines Grenzdorfes verbracht, als eines Abends im väterlichen Fernseher eine Mauer fiel und ein Papst den Asphalt eines Flughafens küsste. Und Vater stand auf und knipste den Globus an. In diesem Licht leuchteten Länder, von denen ich nie viel gehört hatte, was umso erstaunlicher war, als ich direkt daneben wohnte. Und obwohl sein Zeigefinger sich ganz eindeutig nach links bewegte, sagte er, es wäre jetzt vielleicht einmal an der Zeit, in den Osten zu fahren.
Im Speisewagen eines muffigen Zuges sank die Abendsonne hinter eine misslungene französische Eröffnung und streckte die Schatten der Figuren über das Holzbrett. Jeder erzählte, was er von diesem Land wusste. Mein Vater erzählte, dass alles viel billiger sei, dass es aber nicht alles gäbe. Mein Bruder, der mich im Schach schlug, erzählte von Rolltreppen, die so rasant unter die Erde fuhren, dass es den Besuchern auf dem Weg hinab die Beine wegzöge. Und meine Mutter erzählte von einem berühmten Schriftsteller, der in Prag gelebt hatte, aber irgendwie Österreicher gewesen sei, dessen Werke weltberühmt, aber von niemandem in der Familie gelesen worden waren.
Es gab viele Gründe, warum jemand Prag aufsuchte, und die Liebe war einer davon. Ein Mann jedenfalls, der sich nicht nur für unser Schachspiel interessierte, erzählte meinem Bruder und mir von einer Frau, bis ihn ein zorniger Blick meiner Mutter traf. Einige Tage lang glaubte ich, er sei mit dieser Frau verheiratet. Ich war damals noch sehr jung und durch die Ränder des Dorfes brach nur sehr langsam etwas Licht.
Ich komme jetzt also 20 Jahre später wieder in diese Stadt. Ich habe sie in der Zwischenzeit natürlich öfter aufgesucht, aber zum ersten Mal werde ich in ihr eine Wohnung beziehen, kochen, einkaufen, meinen Alltag, was auch immer das ist, bestreiten. Und weil jedermann weiß, dass ein Schriftsteller am Schreibtisch sitzt und sich vom Fließen eines schönen Flusses inspirieren lässt, lasse ich meinen Koffer am Gang stehen und setze mich gleich an den Schreibtisch. Vor mir rauscht die Moldau und amerikanische Touristen strecken ihre Selfie-Sticks in den Himmel.
Am Fensterbrett hat jemand – wohl nicht ganz zufällig – einen alten Geldschein platziert: 100 sto korun. Ein Mann und eine Frau, beide Bauern, beide mit harten, männlichen Gesichtszügen, blicken mutig in eine glorreiche Zukunft. Der Geldschein stammt aus dem Jahr 1961. Die Gesichter der Personen sind vom Rauch der Fabrikschlote im Hintergrund umrahmt.
Als der Geldschein gedruckt wurde, arbeitete Vaclav Havel als Bühnenarbeiter und schrieb seine ersten Stücke. Mein Vater träumte von Reichtum, meine Mutter von Kindern. Und Europa war ein Kontinent, der von Stacheldraht und Mauern zerteilt wurde. Ich klappe mein Notebook auf, installiere die Software, um das Internet benutzen zu können. Die Zäune und Wachtürme meiner Kindheit werden wieder errichtet, schreiben die Zeitungen. Drohnen und Kameras überwachen die Grenzflüsse. Die Regierung fordert junge Menschen auf, sich an der Waffe ausbilden zu lassen. Die Grenzen, so heißt es, müssten geschützt werden.