Der Autor

Nassir Djafari wurde 1952 im Iran geboren und ist im Alter von 5 Jahren mit seiner Familie nach Frankfurt am Main gezogen. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig.

Dem literarischen Schreiben widmet er sich seit 2012. Im Jahre 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“ (Sujet Verlag) und 2022 folgte sein zweiter Roman „Mahtab“. Ein dritter Roman befindet sich derzeit im Lektorat.

Im November / Dezember 2023 ist Nassir Djafari ein Stipendiat im Prager Literaturhaus (in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Literaturrat). Aktuell arbeitet er an einem literarischen Projekt zum Prager Frühling und den Aufenthalt in Prag möchte er zu einer Recherche vor Ort nutzen.

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© Nassir Djafari

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| Nassir Djafari | Rubrik: Feuilleton | 6.12.2023

Das Muster

Ich laufe durch die Masarykovo nábrezi am Ufer der Moldau entlang, seit zwei Tagen schneit es ununterbrochen, und ich muss aufpassen, auf dem teils matschigen, teils zugefrorenen Gehweg nicht auszurutschen, was mir ganz und gar nicht passt. Denn an den Jugendstilfassaden der Häuser und an dem prachtvollen Gebäude des Nationaltheaters will ich nicht einfach so vorbeigehen, sie faszinieren mich seit meinem ersten Tag in Prag. Ich muss sie jedes Mal aufs Neue betrachten, vielleicht entdecke ich noch ein Detail, das mir bisher entgangen ist. Auf der Höhe des Rudolfinum biege ich nach Josefov, dem ehemaligen Judenviertel ab, dort setzt sich die Serie der stolzen Bürgerhäuser fort. Die Türmchen auf den Dächern begeistern mich besonders. Am nächsten Tag bin ich im Stadtteil Vinohrady auf der Suche nach einem Café, in dem ich verabredet bin, und wieder staune ich über die bestens erhaltenen, mindestens ein Jahrhundert alten Gebäude, die sich aneinanderreihen. Ist Prag wirklich, anders als so viele Metropolen Europas im 20. Jahrhundert, von Kriegen verschont geblieben, wundere ich mich. Am Rande meiner vom Prager Literaturhaus organisierten Lesung unterhalte ich mich mit Besucherinnen und Besuchern und werde schließlich meine Frage los. Und so erfahre, dass es im Zweiten Weltkrieg nur wenige Luftangriffe der Alliierten gab, die auch nur geringen Schaden anrichteten, eines der Bombardements beruhte sogar auf einem Navigationsfehler der US-Airforce und war eigentlich für Dresden bestimmt. Na also, denke ich, und wir sprechen über andere Themen.

Tage später, ich sitze in der Nationalbibliothek und recherchiere für meinen neuen Roman, lese ich, dass der tschechoslowakische Staatspräsident Alexander Dubcek fünf Tage nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts vom sowjetischen Machthaber Breschnew nach Moskau beordert wurde. Dort angekommen unterschrieb er eine Erklärung, mit der er sich verpflichtete, die im Zuge des Prager Frühlings eingeführten Freiheiten wieder einzuschränken. Wenige Monate später brauchten die Sowjets Dubcek nicht mehr, er wurde beiseite geschoben und an seine Stelle trat Gustáv Husák, der die alten Machtverhältnisse in vollem Umfang wieder herstellte, ganz so wie es sich Breschnew vorstellte. Prag und dem Rest des Landes aber blieben Krieg und Zerstörung erspart.

Nun weiß ich (selbstverständlich), dass fast dreißig Jahre vor der Invasion der Sowjets und ihrer Verbündeten eine andere Armee in die Tschechoslowakei eingefallen war, die deutsche Wehrmacht. Wie war das damals, frage ich mich. Ich steige ein paar Stufen tiefer hinab/tauche ein bisschen tiefer in die Geschichte Europas während des 20. Jahrhunderts ein und erkenne ein Muster. Mitte März 1939 bestellte Hitler den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Emil Hacha nach Berlin ein und stellte ihn vor die Alternative, das, was nach dem Münchener Abkommen und der von Nazi-Deutschland veranlassten Abspaltung der Slowakei von seinem Land noch übriggeblieben war, dem deutschen Protektorat zu unterwerfen, andernfalls ließe er unverzüglich Prag bombardieren. Stunden später unterzeichnete der Tscheche noch in Berlin, alleingelassen von den Westmächten, den Protektoratsvertrag. Am nächsten Tag besetzte die deutsche Wehrmacht das Land. Und so kam es, dass Prag während des zweiten Weltkriegs weitgehend unversehrt blieb.

Die Anführer der Tschechoslowakei beugten den Nacken, aber es gab mutige Bürger, die das nicht hinnahmen. Auf den Stellvertretenden Reichprotektor Reinhard Heydrich wurde ein Attentat verübt, und überall im Lande waren Widerstandsgruppen aktiv. Im Jahre 1968 leisteten ganz gewöhnliche Menschen zivilen Ungehorsam. So manche Aktion, wie etwa die Entfernung von Straßenschildern und Hausnummern über Nacht, damit sich die Besatzer in Prag nicht zurechtfinden konnten, hätte den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk entnommen sein können. Aber trotz des Widerstands aus der Bevölkerung, unterwarf sich die Tschechoslowakei als Staat innerhalb von etwa dreißig Jahren zweimal hintereinander, im Gegenzug wurde sie vom Krieg verschont. War es das wert? Was ist mit den nahezu 360.000 auf dem Territorium der ehemaligen Tschechoslowakei ermordeten Juden und der vielen anderen Opfern der Gewaltherrschaft der Nazis, was ist mit den vielen Regimekritikern, die nach 1968 festgenommen wurden, ihre Arbeit verloren, mit Berufsverboten belegt wurden?

Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Im Jahre 1918 machte sich die soeben gegründete Republik auf, nach 300 Jahren unter der Herrschaft der Habsburger ihr Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Fünfzig Jahre später verfolgten Reformer an der Spitze der CSSR mit Elan die Vision eines  „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Nicht nur Individuen haben Träume, auch Nationen haben sie. Wie geht es weiter, wenn Lebensentwürfe zerschlagen werden?  Was macht das mit den Individuen, wie kommen sie in ihrem Alltag damit zurecht?

Zurück zur Geschichte: Fast zwanzig Jahre nach dem Einmarsch der Sowjets erhob die Tschechische Republik erneut ihr Haupt, und der Schriftsteller Vacláv Havel, Unterstützer des Prager Frühling und Mitbegründer der Charta 77 wurde ihr erster Präsident.

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