Stadtführungen der etwas anderen Art: "Prag aus der Sicht von Obdachlosen" (im Original: "Prague through the eyes of homeless people"). Die soziale Organisation "Pragulic" organisiert Stadttouren mit Führern, die lange Zeit auf der Straße gelebt haben oder dies teilweise noch müssen. So soll den Obdachlosen einerseits die Möglichkeit zur Resozialisierung durch die Ausübung eines Jobs ermöglicht werden und andererseits wird den Teilnehmern der Führungen eine andere Perspektive auf Prag geboten.
Dabei gibt es verschiedene Angebote: Man kann beispielsweise eine zweistündige Tour mit einem der neun Guides buchen, bei der es mehr darum geht, Orte zu sehen, die einem als Tourist oder auch als Einheimischer nicht unbedingt geläufig sind. Oder man bucht die "24-Stunden-Erfahrung", bei der man einen Tag lang mit einem der Führer auf der Straße lebt und nachempfinden kann, wie es sich anfühlt, weder eine gesicherte Mahlzeit, noch einen festen Schlafplatz zu haben.
Meine Freunde und ich entschieden uns für Robert, einem von zwei Führern, die auch englischsprachige Touren anbieten. Robert ist ein kleiner gedrungener Mann mit Vollbart und schwarz-grau-melierten schulterlangen Haaren. Mit seinem Fleecepullover, seiner dicken Wollmütze, seiner Bauchtasche und einem überdimensionalen Rucksack tapste er am Treffpunkt vor dem Hauptbahnhof auf uns zu und machte einen etwas skurilen, wenn auch sympathischen Eindruck. Es stellte sich schnell heraus, dass er ein grenzenloser Liebhaber von Zügen ist und so begann unsere Tour auch in einem Zug vom Hauptbahnhof zum Bahnhof Smíchov (Smíchovské nádraží). Dort angekommen, machte uns Robert auf beeindruckende Wandmalereien im oberen Teil der Halle aufmerksam. Ein Passant bemerkte, dass unsere Gruppe fasziniert nach oben starrte und eifrig Fotos machte und stellte sich verwundert zu uns. Er sagte uns, dass er seit fünf Jahren diesen Bahnhof benutzte, die Malereien aber noch nie bemerkt habe.
Das beschreibt die Faszination einer Tour mit Robert sehr passend. Er hielt immer wieder an verschiedendsten Ecken an und machte uns auf kleine Details am Straßenrand oder versteckt in Hinterhöfen aufmerksam. Dabei konnte es sich um alles Mögliche halten: von 70 Jahre alten Reklametafeln bis hin zu einer Kirche die zwischen ein paar Bäumen von der Sonne angestrahlt wurde. Die Tour setzte sich etwas durch den Stadtteil Smíchov bis zur Metro-Station Anděl fort. Von dort nahmen wir einen historischen Schienenbus, der uns eine schöne Strecke durch die Wälder den Berg hinauf zum Bahnhof Praha-Cibulka in den Stadtteil Košíře brachte. Von dort führte uns Robert zu einem im Wald versteckten alten Turm, der nicht nur an sich sehr interessant aussah, sondern auch eine weite Aussicht zu bieten hatte. Auf dem Rückweg hatte Robert noch für alle Teilnehmer selbstgemachtes Gebäck.
Die Führung hat sich aus meiner Perspektive wirklich gelohnt, da wir Prag auf anderen Wegen als die meisten Touristen erkunden konnten. Man muss hierbei nicht erwarten, dass man sieht wie Obdachlose in Prag leben. Sondern viel mehr, wie jemand, der seit Jahren in dieser Stadt lebt und sie auswendig kennt, diese sieht und was derjenige an ihr zu schätzen weiß.