Montag, 3. November 2014
Liebster,
die Buchhandlung ACADEMIA am Wenzelsplatz gibt den Käufern keine Plastiktüte mit, sondern schlägt die gekauften Bücher in sanft glänzendes Papier ein, auf dem die Fassade des Hauses abgebildet ist. Wenn man die Bücher auswickelt, sind sie wie Geschenke, die man sich selbst gemacht hat und wie bei schönem Geschenkpapier bemüht man sich, das Papier dabei nicht zu zerreißen. Das ist einer meiner ersten Eindrücke von dieser Stadt, die reich, sehr selbstbewusst und ungeheuer europäisch daherkommt, wenn man bei Wenzels berühmter Reiterstatue aus den Katakomben der Metro aufsteigt.
Dort empfing mich, überlebensgroß an der Fassade des Nationalmuseums, ein Bildnis von Vaclav Havel. Noch vor Kafka begrüßt er mich in seiner Stadt. Auch für Prag fiel ja vor 25 Jahren die Mauer und die Stadt hat ihren nicht unwesentlichen Anteil daran.
In einem der Bücher, das ich ausgewickelt habe, ein schmales Bändchen mit Kafkas sämtlichen Zeichnungen, stieß ich auf seinen oben zitierten Satz. Er wurde für mich Wirklichkeit, als ich den Altstädter Ring betrat.
Hatte ich den Wenzelsplatz noch in der einfallenden Dämmerung gesehen, seine sanft abfallende Neigung, umsäumt von Tausenden von Lichtern, so umfasste den Altstädter Ring bereits die Dunkelheit. In den umliegenden Restaurants leuchteten die Wärmefeuer für Gäste, die auf den für sie improvisierten Terrassen ihr Abendessen einnahmen. Über den Platz flanierten Spaziergänger, es herrschte reges Treiben, dennoch ruhig, überschaubar, von beinahe südländischer Gelassenheit. Mitten auf dem Platz saß ein Mann, der ein Madonnenbild vor sich auf den Boden gestellt hatte und es stoisch von oben mit einer Taschenlampe anleuchtete. Um ihn herum aufgestellt viele bunt irrlichternde Grableuchten. Ich weiß nicht, ob es eine besondere Madonna war. Nun ja, jede Madonna ist besonders.
Ein Straßensänger begleitete sich selbst mit der Gitarre und sang Pink Floyds „Wish you were here“. Die schwere, kühle Mauer des Altstädter Rathauses im Rücken, hörte ich zu und sah auf den offenen Platz vor mir, von den beeindruckenden Türmen der Teynkirche gegenüber wie magisch angezogen. Einer dieser faszinierenden Plätze Europas mit der Atmosphäre eines Innenraums unter freiem Himmel, ein Ballsaal, ausgebreitet für das Fest des Lebens. Von Menschen für Menschen geschaffen und durch ihre jahrhundertelange Anwesenheit nicht abgenutzt sondern im Gegenteil. Aus der Zeit gewachsen, von stolzer Erhabenheit. Von der Wahrheit dieser Stadt geblendet sein. Von ihrer Architektur, ihrer Schönheit, ihrer Wirklichkeit.
So bin ich angekommen. Im letzten Licht eines besonders milden Novembertags. Gestern Abend, als ich mein Quartier bezog, hing Nebel in der Allee, auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Wohnung im südlicheren Teil der Stadt, wo die Häuser und Straßen genau so aussehen wie bei uns. Wohnfassaden, Supermärkte, kleine Geschäfte, die normale Gesichtslosigkeit einer Großstadt in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
„Lange stand K. auf der Brücke und starrte in die scheinbare Leere empor“, musste ich denken, wie ich so neben meiner Führerin einher stapfte mit meinem schweren Gepäck. Obwohl ich die Karlsbrücke und den Hradschin noch nicht gesehen habe, kam mir plötzlich gestern Nacht in der Allee der Gedanke in den Sinn: Natürlich ist Kafkas „Dorf“ in seinem Roman „Das Schloss“ nicht irgendein kleines Dorf im Irgendwo. Es ist Prag. Was soll es sonst sein.
Als ich dann heute Mittag bei der Metrostation Pavlova ins Freie trat, um im Prager Literaturhaus meinen Antrittsbesuch zu machen, stand ich unvermittelt zwischen den Fassaden und begriff: Ach so, ja, DAS ist Prag. Ich öffne meine Augen für diese Stadt. Die unzerstörte, die goldene. Was wird sie mir erzählen? Und ich? Was erzähle ich ihr?
In Liebe, Deine