Der Autor

Geboren am 1992 in Braunschweig, er lebt in Frankfurt am Main.

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt am Main. Seit drei Jahren schreibt Lennardt Loß Kurzgeschichten, die in verschiedenen Anthologien erschienen sind.

Seit 2017 arbeitet er als freier Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Das "Aschenroda Rindermassaker" wurde für den hr2-Literaturpreis 2018 nominiert. Sein Debüt erscheint im Frühjahr 2019 bei weissbook.

Auszeichnungen:

Anthologiepreis Junges Literaturforum Hessen-Thüringen 2016

1. Preis Junges Literaturforum Hessen-Thüringen 2017 und 2018

 

Bildnachweis:
© Viet Duc Le

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Blog

| Lennardt Loß | Rubrik: Kultur | 20.11.2018

Vorspann oder: Warum ich über Prag und seine Kinos schreibe

Das Größte am Kino ist für mich die Zeit nach dem Abspann. Wenn man wieder auf die Straße tritt und sich Stadtbilder und Filmbilder überlagern. Wenn man in die Realität zurückfindet, aber der Film im Kopf trotzdem noch weiterläuft. Ich glaube: Es macht einen Unterschied, wo man einen Film sieht. Ob in Prag oder in Frankfurt. In diesem Blog geht es deshalb über Prag und seine Kinos. Über Programmkinos wie das Lucerna, aber auch über das Cinema City. Über den großen Miloš Forman und die tschechoslowakische Neue Welle. Über Dinosaurierfilme von 1954 und über Harndrang im Multiplex.

 

9. November 2018

Der erste Kinofilm, den ich in Prag sehe, ist 49 Jahre alt. Titel: Funeral Parade of Roses vom japanischen Regisseur Toshio Matsumoto (siehe oben, Bild 1). Das Programmkino Světozor zeigt den Experimentalfilm, der eine Ödipus-Geschichte in der Drag-Szene von Tokio erzählt. Die beiden Transvestiten Eddie und Leda lieben denselben Mann: Gonda, ein Nachtclubbesitzer und Dealer. Leda begeht Selbstmord, nachdem Gonda mit Eddie schläft. Am Ende findet Eddie heraus, dass Gonda ihr leiblicher Vater ist und sticht sich (Ödipus!) die Augen aus. Dann: Abspann.

ABER: Eigentlich ist die Story von Funeral Parade of Roses nebensächlich. Was den Film so herausragend macht, ist der Stil. Die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern in Vor- und Rückblenden, zwischendurch sind Interviews mit Transvestiten (in Japan von 1969 konsequent gay boys genannt) eingeschnitten. In einer Szene sehen wir Eddies Gesicht in Großaufnahme. Sie hat Sex, stöhnt, schließt und öffnet ihre Augen, presst die Lippen zusammen, dann gibt es einen harten Schnitt. Wir sehen das Bett, auf dem Eddie liegt und um das Bett herum: das Kamerateam, das den Schauspieler, der Eddie spielt, beim Spielen von Eddie filmt. Wir sehen auch, dass der Mann, mit dem Eddie Sex hatte (oder von dem wir glaubten, dass Eddie mit ihm Sex gehabt hätte), in Wirklichkeit neben dem Bett sitzt und raucht. Ich kenne wenige Filme, die es so gut verstehen, die vierte Wand einzureißen.

In einer anderen Szene prügeln sich die Transvestiten auf den Straßen Tokios mit drei Frauen, die ihnen ungefragt das Recht absprechen, so zu leben, wie sie leben. Die Schlägerei wird in doppelter Geschwindigkeit abgespielt. Dazu: Beethoven. Zu Hause lese ich, dass Stanley Kubrick Funeral Parade of Roses geliebt hat. (Die offensichtlichsten Zitate finden sich in A Clockwork Orange. Also Beethoven-Fetischisieren und Fast-Forward-Ästhetik.) Und tatsächlich: Wenn ich die Stimmung beschreiben müsste, die Funeral Parade of Roses bei mir im Kinosessel ausgelöst hat, dann würde ich den Film mit einem Trailer zu A Clockwork Orange vergleichen.

Hier der Link: https://www.youtube.com/watch?v=FI1204n6GZw

 

9. November 2018 

Nachtrag 

Nach jedem Kinofilm (oder jedenfalls nach den guten) gibt es ja diese Übergangszeit. Von der süßen Fiktion zurück in die bitterschmeckende Wirklichkeit. Also zurück in den oft langatmigen, kräftezehrenden und öden Alltag. Man fängt an, den Film zu vergleichen, ihn einzuordnen und zu bewerten. Wie man es mit allem macht, was einem im Leben geschieht. Aber mit jedem Wort, das man über den Film sagt oder denkt, geht das unmittelbare Kinoereignis ein kleines Stück verloren. Aus einem Gefühlerlebnis wird eine Reflexionserfahrung. Das meine ich mit Übergangszeit. Und die gehört zum Kino vermutlich ebenso dazu wie der Ticketkauf an der Kasse. Das wunderbare am Světozor ist, dass dieses Kino die Übergangzeit torpediert. Das Světozor liegt direkt an der Tramhaltestelle Václavské náměstí in Prag 1. Man wird also sofort in so eine Nahverkehr-Menschenmassen-Stresssituation hineingeschossen. Und denkt erstmal wenig über den eben gesehenen Film nach. Sondern ausschließlich daran, wie man aus eben dieser Nahverkehr-Menschenmassen-Stresssituation herauskommt. Was natürlich großartig ist, weil es die Übergangszeit verlängert. Weil man erst in der Kellerkneipe, die man betreten hat, um bei Sliwowitz über den Film zu reden, an besagten Film zurückdenkt. Das Světozor verlängert das Filmnachflimmern.

 

9. November 2018

Nachtrag II

Funeral Parade of Roses wurde im Rahmen des Mezipatra vorgeführt. Ein queeres Non-Profit-Filmfestival, das es in Prag seit dem Jahr 2000 gibt. Dessen Anspruch: »We provide the people in the Czech Republic with a space for discovering the variety of sexual and gender identities through our queer program and its reflection. Each year, the festival is visited by about 12.000 people and we aim to not only broaden their horizons, but also offer a space for meetings and self-expression. Mezipatra helps understand one's own identity and the meanings related to the word “queer”.« Maximal gut: An einem Freitagabend in Prag um 20:30 Uhr ist der Kinosaal voll, wenn ein japanischer Queer-Film aus dem Jahr 1969 gezeigt wird.

 

11. November 2018 

Ich habe heute ein Werbeplakat für den »Dino Park Prag« gesehen und musste an den ersten Kinofilm denken, den ich in meinem Leben gesehen habe: Walt Disneys »Dinosaurier«. Das war im Jahr 2000. Damals war ich acht Jahre alt. »Dinosaurier« ist ein Animationsfilm, über den heute kaum noch gesprochen wird. (Vermutlich aus gutem Grund.) Damals hat der Film einen prägend Eindruck bei mir hinterlassen. Es geht um... ehrlich gesagt: Ich habe keinen Schimmer mehr, um was es geht. Das Einzige, was ich erinnere, sind die Bilder: Dämpfende Urregenwälder, sprechende Dinosaurier als Helden und – selbstverständlich auch – als Schurken, als Bad Guys. Brachiosaurier, Styracosaurier (oder wie auch immer da der korrekte Plural ist)... Das, was auf der Leinwand zu sehen war, hat mich in eine andere Welt versetzt. 100 Millionen Jahre zurück. Und ich habe diese Zeitreise widerstandlos akzeptiert. Ich habe mich vom Kino verarschen lassen. Und weil dieses Veraschenlassen geklappt hat, habe ich mich wohl ins Kino verliebt.

Dass die Dinosaurier sich null wie Dinosaurier benommen haben (also höchstwahrscheinlich sehr dumm, sprachunfähig und brutal), habe ich natürlich nicht hinterfragt. Sie waren wie Menschen für mich. Wo wir wieder beim großen, wunderbaren Verarschen sind.

Ich habe heute recherchiert, ob es tschechische Dinosaurierfilme gibt. Und den tschechoslowakischen Fantasyfilm Reise in die Urzeit von 1955 gefunden.

Das Plakat sieht so aus: (siehe oben, Bild 2)

Muss den UNBEDINGT sehen!

 

Rückblende Oktober 2019

Vor einem Monat war ich schon mal in Prag und habe den neuen Lars von Trier geschaut: The House that Jack built. (Von Trier zitiert sich 2 Stunden 35 Minuten lang selbst. Maximal öde! Das Langweiligste im Kino ist ja Erwartbarkeit, das Abfragen von Allgemeinplätzen, wenn ich als Zuschauer genau weiß, was in den nächsten Stunden auf mich zukommt.)

Der Film lief im Cinema City, einem der größten Kinos in Tschechien. Es liegt in einem Shopping Center zwischen Tommy Hilfiger-Filialen, Starbucks und Nespresso-Boutiquen. Also brutal schreckliches Shopping-Mall-Gefühl. Trotzdem mag ich Multiplex-Kinos. Ich bin in Braunschweig, Niedersachsen, aufgewachsen. Einer 250,000 Einwohnerstadt zwischen Göttingen und Hannover. Mit zwei Kinos. Einem Programmkino und einem Multiplex: dem Cinemaxx. Dort hatte ich auch mein besagtes Dinosaurier-Verarschungs-Erlebnis. Ich meine mich zu erinnern, wie ich dort Star Wars geschaut habe. Da war ich auch nicht älter als neun oder zehn. Egal. Wichtig ist: Ich habe es geliebt, während des Films auf Toilette zu gehen. Die WCs waren (wie gesagt: ein Multiplex) eine Etage tiefer als der Saal. Ich musste also das menschenleere Foyer durchkreuzen und eine mit rotem Flokati ausgelegte Treppe herabsteigen, um die Toiletten zu erreichen. Auf meinem Weg bin ich keinem Menschen begegnet. Ich war allein. Und habe mich gefühlt wie ein Raumschiffkapitän, der durch sein Schiff schreitet. Und dieses Gefühl war natürlich besser als der eigentliche Film. Der Nachteil ist, dass ich seitdem in Multiplexkinos extremen Harndrang verspüre. Auch bei The House that Jack built.

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