Die „Prager deutsche Literatur“ gilt heute unter Kulturjournalisten wie Literaturwissenschaftlern als längst erforschtes Feld. Die Texte von Autoren wie Franz Werfel, Rainer Maria Rilke und natürlich Franz Kafka zählen zum Prüfungsstoff ganzer Abiturjahrgänge. Wissenschaftliche Überraschungen, so glaubten viele Kulturwissenschaftler bislang, seien nicht mehr zu erwarten. Prof. Dr. Manfred Weinberg, künftiger Leiter der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur an der Prager Karls-Universität, ist da gänzlich anderer Meinung.
Pavel Eisners „dreifaches Ghetto“ – Ein reduzierter Blick auf die Prager deutsche Literatur
Lange Zeit wurde der Blick auf die Prager deutsche Literatur von zwei Perspektiven dominiert. Während einerseits Max Brod mit dem Erscheinen seiner Studie „Der Prager Kreis“ 1966 bestimmte Schriftsteller der 1920er und 30er Jahre erneut in den Fokus des literaturwissenschaftlichen Interesses rückte – wodurch andere Prager Autoren, wie u. a. Rudolf Fuchs oder auch Karl Brand weniger Beachtung fanden und bald in Vergessenheit gerieten –, wurde Pavel Eisners 1948 formulierte These vom sog. „dreifachen Ghetto“ – also einer völligen Abgrenzung der Autoren der Prager deutschen Literatur als Deutsche von den Tschechen, als Juden von den Christen und als sozial Höhergestellte von sozial niedriger Gestellten (vgl. Weinberg, Manfred: Heimat in der Prager deutschen Literatur und bei Franz Kafka, in: Heimat als Chance und Herausforderung: Repräsentationen der verlorenen Heimat, Berlin 2014, S. 172) – auf der zweiten Literaturkonferenz 1965 in Liblice, an der auch der Germanist Kurt Krolop teilnahm, von Eduard Goldstücker aufgegriffen und als korrekt bestätigt. Die Konferenzbeiträge wurden später in dem Band „Weltfreunde“ abgedruckt und auch außerhalb der damaligen Tschechoslowakei von der sog. Inlandsgermanistik in der Bundesrepublik Deutschland rezipiert und zu großen Teilen unreflektiert übernommen.
Der Prager Kreis – Es gab nicht „nur“ Kafka, Rilke und Werfel
Der zweite vorherrschende Blick richtete sich bislang auf die von Eduard Goldstücker nominierten „Galionsfiguren“ der Prager deutschen Literatur Franz Werfel, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka, von denen Goldstücker den „Weltruhm“ dieser Literatur ableitete. Sie stellen die literarischen Akteure dar, mit denen der sog. „Prager Kreis“ heute verbunden wird. Dabei war der „Prager Kreis“ gar keine feststehende Institution der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern wurde als Begriff erst nach dem Erscheinen des gleichnamigen Erinnerungswerks von Max Brod 1966 von Kulturjournalisten wie Literaturwissenschaftlern übernommen. Doch gerade die Auseinandersetzung mit dem heute vielleicht bekanntesten Prager deutschsprachigen Autor Franz Kafka war in der ČSSR problematisch, wie Prof. Weinberg feststellt:
„Welche Widerstände gerade bezüglich dieses Autors zu überwinden sind, zeigte schon die erste Liblice-Konferenz von 1963, die einen ‚Franz Kafka aus Prager Sicht‘ versprach, sich tatsächlich aber nur in Reflexionen zu einer Kafka-Lektüre aus marxistischer Perspektive erschöpfte.“ (WEINBERG, brücken 2012, S. 172).
Prof. Weinberg gibt Folgendes zu bedenken:
„Es spricht für sich, dass Eduard Goldstücker die Prager deutsche Literatur auf der zweiten Konferenz in Liblice 1965 erst mit dem Erscheinen von Rilkes erstem Gedicht-Band 1894 beginnen lässt. Denn nur im Zeichen der drei großen ‚weltbedeutenden‘ Autoren Rilke, Werfel und Kafka konnte es gelingen, dieser eine von ‚verdächtigen‘ ideologischen Tendenzen völlig freie Sonderstellung zuzuschreiben, die deren Thematisierung unter den Bedingungen des Sozialismus überhaupt erst erlaubte.“ (Ebd., S. 170).
Kafkaeske ČSSR – Schwierige Forschungsbedingungen während des Kommunismus
26 Jahre nach der „Samtenen Revolution“ weist Prof. Weinberg darauf hin, dass die Perspektive der bundesdeutschen Germanistik sich Jahre lang auf Forschungsergebnisse aus der ehemaligen ČSSR stützte, ohne diese einer genaueren Prüfung ihrer ideologischen Voraussetzungen zu unterziehen. Doch Weinbergs Überlegungen decken noch einen weiteren Umstand auf:
„Das kommunistische Regime förderte indes solche Forschungen nicht; dennoch konnte sich eine erste Arbeitsstelle zur Prager deutschen Literatur an der Akademie der Wissenschaften konstituieren [...], die aber Anfang der 1970er Jahre aufgelöst wurde [...]“ (Ebd., S. 169)
– und deren damaliger Leiter, Kurt Krolop, mitsamt seiner Familie in die DDR ausgewiesen wurde. Dort arbeitete er fortan außerhalb des akademischen Bereiches, zunächst für den Verlag „Volk und Wissen “. Dies zeigt, wie brisant eine Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Literatur in der sozialistischen Tschechoslowakei war.
Von Anfang an – Ein komplettes Forschungsfeld wird neu aufgerollt
Historisch gesehen stützen sich damit zahlreiche heutige Untersuchungen zur Prager deutschen und deutsch-böhmischen Literatur auf die Grundlagenforschungen aus den 60er Jahren, die jedoch nach 1969 nicht mehr weitergeführt wurden bzw. werden durften, nun aber unter den Vorzeichen eines veränderten akademischen Betriebs und neuester historischer Studien zum Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden, vor allem im frühen 20. Jahrhundert, wieder neu aufgenommen werden. Prof. Weinberg erklärte bereits 2012 in seinen Ausführungen zum Arbeitsprogramm der Kurt Krolop Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur an der Karls-Universität Prag, dass das langfristige Ziel der Forschungsstelle eine Erschließung der gesamten Geschichte der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern sei und die deutsch-böhmische Literatur dabei als ein integraler Bestandteil der Kulturgeschichte Böhmens verstanden werde. Die zunächst aufzuarbeitenden Themen- und Forschungsfelder sind: 1. Die Epoche des Liberalismus, 2. Die Frühlingsgeneration bzw. das sog. Jung-Prag, 3. Franz Kafka, 4. Die Vielfalt des Jüdischen: Zwischen Tradition, Assimilation und Moderne, 5. Prag zwischen Wien, Berlin und Paris, 6. Das kulturelle Konstrukt der Region, 7. Literatur – Kulturmodelle – Politik. Man darf auf die ersten Publikationen gespannt sein.
Zum 85. Geburtstag Kurt Krolops – Eröffnung einer neuen Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur
Nach mehrjähriger Vorbereitungsphase soll die Forschungsstelle nun Ende Mai eröffnet werden. Namensgeber der Forschungsstelle wird Prof. Dr. Kurt Krolop sein, der mit der ersten Arbeitsstelle in den 60er Jahren an der Prager Karls-Universität den entscheidenden Grundstein für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der Prager deutschen und deutsch-böhmischen Literatur gelegt hat – und nicht nur das: Kurt Krolops Engagement ist es auch zu verdanken, dass die Prager Germanistik mit seiner Rückkehr an die Karls-Universität nach 1989/90 wieder in die internationale germanistische Forschungsgemeinde aufgenommen wurde. Er ist seit 1990 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wilhelm Hartl-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1996), Mitgliedschaft u. a. in der Deutschen Schillergesellschaft, Präsident der Prager Kafka-Gesellschaft sowie Ehrenvorsitzender der Goethe-Gesellschaft in der Tschechischen Republik. In Tschechien wurde er 2005 mit der Verleihung der Gedenkmedaille der Karls-Universität geehrt. 2007 wurde ihm in der Deutschen Botschaft Prag das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen; 2008 verlieh ihm die Republik Österreich das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst.
Am 29. Mai 2015, wenige Tage nach Kurt Krolops 85. Geburtstag (am 25. Mai), wird in der Deutschen Botschaft Prag die neue Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur an der Karls-Universität Prag feierlich eröffnet werden. Leiter der Forschungsstelle wird Prof. Dr. Manfred Weinberg sein. Beteiligte WissenschaftlerInnen sind: Julia Hadwiger, M.A., PhDr.Vaclav Petrbok, Ph.D., Prof. PhDr. Milan Tvrdík, CSc. und Štěpán Zbytovský, Ph.D
(Konstantin Kountouroyanis)