Unter dem Terminus „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ fand am 15. und 16. März 1939 der letzte Akt der deutschen Okkupationspolitik in der Ersten Republik Masaryk mit der Besetzung Prags statt. Bereits ein Jahr zuvor hatte sich Deutschland mit der Einverleibung des Sudetenlands nahe an die Hauptstadt herangetastet. Nun konnte die Wehrmacht innerhalb eines Wimpernschlags das restliche Land annektieren.
2019 jährt sich dieses dunkle Kapitel zum 80. Mal. Grund genug, sich mit dem Thema Flucht und Exil in der deutschsprachigen Literatur auseinanderzusetzen. War bis zum März 1939 die Tschechoslowakei selbst noch Exilland für zahlreiche aus Deutschland emigrierte Publizisten und Intellektuelle, wie u. a. Alfred Kerr, Wieland Herzfelde, Oskar Maria Graf, Grete Weiskopf, Thomas Mann, der 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft in Proseč u Skutče erhielt und Theodor Lessing, der 1933 in Marienbad einem von sudetendeutschen Nationalisten verübten Mordanschlag zum Opfer fiel, mussten nun auch tschechoslowakische, insbesondere linksgerichtete sowie jüdische Autoren ihre Heimat verlassen; viele von ihnen im letzten Moment, wie z. B. der langjährige Feuilleton-Redakteur des Prager Tagblatts Max Brod, der einen Tag vor der deutschen Besetzung Prags zusammen mit dem Schriftsteller und Bibliothekar Felix Weltsch die Stadt mit dem letzten Zug verließ. Wer es bis dahin nicht geschafft hatte, wurde von der Gestapo verhaftet, gefoltert, erschossen oder kam in einem der Konzentrationslager um, wie die Schwestern des Prager Autors Franz Kafka.
Viele andere Autoren, wie der aus dem böhmischen Poděbrady stammende Lyriker und Übersetzer Rudolf Fuchs, trafen aus Österreich emigrierte Schriftsteller im Londoner Exil. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, der fast genau ein Jahr vor der Besetzung Prags stattfand, gab es für progressive Literaten auch in Wien, Graz und Salzburg keine Sicherheit mehr. Mit dem Beginn und weiteren Verlauf des Krieges nach dem 1. September 1939 folgten Schriftsteller auch aus anderen Ländern ins Exil wie u. a. Hugó Veigelsberg (besser bekannt als Ignotus) oder Otto Zarek, die aus dem ungarischen Budapest flohen. Autoren, die bis zur Besetzung Paris´ politisches Asyl in Frankreich genossen, mussten weiteremigrieren oder nahmen sich beim Einmarsch der Wehrmacht das Leben, wie der aus Brünn stammende Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß.
„Stimmen aus Böhmen“ 1944 im Verlag der Einheit in London erschienen. Mit Texten u. a. von Rudolf Fuchs, Egon Erwin Kisch, Oskar Kokoschka, Rudolf Popper, Ludwig Winder und Johannes Urzidil
Das Exil bot anfangs den Autoren so gut wie keine Möglichkeiten, publizistisch aktiv zu werden. Die deutsche Sprache wurde im Ausland nicht gesprochen, was Buchpublikationen schwer machte. Einige Autoren schrieben daher auf Englisch. So auch Sebastians Haffners „Germany. Jekyll and Hyde“ 1940 (auf Deutsch erst 1996!) oder Karl Ottens „A Combine of Aggression: Masses, Elite and Dictatorship in Germany“ von 1942, das 1989 in der Bundesrepublik auf Deutsch erschien. Für das deutsche Theater war die Lage weitaus schwieriger. Man brauchte eine Bühne, ein Ensemble und auch ein Publikum, das dem avantgardistischen deutschen Theater zugetan war. Das ließ sich schwer bewerkstelligen und oft genug versuchte das deutsche Auswärtige Amt Druck auf die Exilländer auszuüben, um die Aufführung kritischer Stücke zu verhindern. Trotz dieser widrigen Umstände gelang es aber den Autoren sich nach und nach im Exil zu vernetzen und zu publizieren. Die Autoren organisierten sich in Vereinen und Exilzeitschriften. Die Themen ihrer Dichtungen waren unterschiedlich. Während die einen die verlorene Heimat in ihren Texten beschworen, versuchten andere das Ausland vor der deutschen Gefahr zu warnen.
Deutschlands Expansionsbestrebung hatte die Autoren in alle Himmelsrichtungen verschlagen. Der Prager Publizist Willy Haas fand in Indien Zuflucht und wurde Drehbuchautor. Der Journalist Egon Erwin Kisch konnte sich über die USA nach Mexiko retten, wo er die ebenfalls aus Prag stammende Journalistin Lenka Reinerová traf. In dieser mehrteiligen Reihe sollen neben den häufig diskutierten Einzelschicksalen der Exilanten auch ihre Produktions- und Arbeitsbedingungen während der Jahre 1933 - 1945 erörtert werden.
Prag, 21.04.2019
Konstantin Kountouroyanis
Teil 1 - Die Exilländer: Eine erste Übersicht