Am 18.04. dieses Jahres hielt die promovierte Germanistin Markéta Balcarová im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren einen Vortrag über die 2008 verstorbene Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová unter dem provokanten Titel: “Lenka Reinerovás Inszenierung als ‚letzte Prager deutsche Schriftstellerin‘". Der Vortrag, der in Zusammenarbeit mit dem Institut für germanische Studien der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag und dem DAAD stattfand, wurde eingeleitet und moderiert von Prof. Dr. Weinberg.
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Lenka Reinerová, geboren am 17. Mai 1916 in Prag, wuchs in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, deren Präsident Tomáš Garrigue Masaryk war (an dieser Stelle sei auf den Film „Masaryk“ hingewiesen, der auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurde), auf. Es war das Prag der 20er Jahre, in denen die junge Reinerová noch zur Schule ging. Der Erste Weltkrieg war vorbei, die Monarchie war untergegangen und Prag wurde Hauptstadt einer neuen Republik mit einer tschechischsprachigen Mehrheit. Trotzdem lugten noch hie und da deutschsprachige kulturelle Orte und Medien aus der alten Zeit hervor, wie u. a. das von Max Brod betreute „Prager Tagblatt“ oder die von Masaryk mit dem Ziel, die deutschsprachige Minderheit zu integrieren, gegründete „Die Prager Presse“.
Als am 15. März 1939 um 6 Uhr morgens die Wehrmacht und SS-Verfügungstruppen sowie die Gestapo in Prag einrückten, befand sich Lenka Reinerová bei Freunden im rumänischen Bukarest. Während der nachfolgenden sog. „Aktion Gitter“ wurden Tausende – deutsche Emigranten, Kommunisten und auch Juden – verhaftet. In einem Fernsehinterview erinnerte sich später die hochbetagte Dame an ein Telefonat aus Prag, in dem sie durch eine verschlüsselte Botschaft vor der Rückreise in die Moldaumetropole gewarnt wurde. Lenka Reinerová floh nach Paris. Dort wurde sie verhaftet und verbrachte 6 Monate Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette, später wurde sie im Frauenlager Camp de Rieucros (Südfrankreich, Vichy-Zone) interniert. Über Casablanca konnte sie nach Mexiko entkommen. Dort traf sie zahlreiche andere Emigranten, u. a. auch den Prager „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch und schrieb für das „Freie Deutschland“, eine Zeitschrift von Exilanten, die in Mexiko herausgegeben wurde (und jüngst im Reprint erneut erschien).
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1945 kehrte sie zwar mit ihrem Mann Theodor Balk, der Arzt und Schriftsteller war, nach Europa zurück, allerdings ging sie zunächst nach Belgrad, das seinerzeit Hauptstadt Jugoslawiens war, wo 1946 ihre Tochter Anna geboren wurde. Erst 1948 kehrte sie mit ihrer Familie nach Prag zurück. 1948 war auch das Jahr der sog. Slánský-Prozesse in deren Umfeld auch Lenka Reinerová 15 Monate lang inhaftiert wurde. Auch in späteren Jahren war es für die Reinerová nicht immer leicht. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde sie aus der KPČ ausgeschlossen und mit einem Publikationsverbot belegt. Sie verlor ihre Verlagsarbeit und schlug sich als Simultandolmetscherin durch. Erst nach der Sanften Revolution von 1989 erschienen wieder Erzählungen von ihr, vor allem die sog. Erinnerungsbücher, im Aufbau-Verlag Berlin.
In diesem schlichten Haus (orange) an der Tram-Haltestelle Klamovka lebte Lenka Reinerová bis zu ihrem Tode.
Vor diesem biografischen Hintergrund ist es verständlich, dass sich das mediale Bild der Reinerová, das der Fremd- und Selbstdarstellung sowie Zuschreibungen, in letzten 70 Jahren mehrfach gewandelt hat. Markéta Balcarová arbeitete in ihrem Vortrag die Gründe für den Wechsel der Selbstdarstellung Reinerovás heraus. „Ich zähle mich nicht zu den ‚Prager Deutschen‘,“ antwortete Lenka Reinerová 1983 Günter Caspar, dem damaligen Lektor des (Ost) Berliner Aufbau-Verlags, der sich – nach langem Publikationsverbot – für das Erscheinen ihrer Texte in der DDR einsetzte. Seit den 90er Jahren nimmt Reinerová sowohl in ihren Texten, als auch in den Medien wieder stärker Bezug auf die Prager deutschen Schriftsteller, bis hin zu der Aussage, die am 25.01.2008 im Deutschen Bundestag innerhalb der Gedenkrede anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz von der Templiner Schauspielerin Angela Winkler (Lenka Reinerová war aus gesundheitlichen Gründen verhindert) verlesen wurde: „Ich bin, und das ist keine Neuigkeit, der letzte deutschsprachige Autor in der Tschechischen Republik.“ Markéta Balcarová erklärt diesen Wandel wie folgt: „Ein direktes Bekenntnis zu anderen kosmopolitisch [im Sinne von intellektuell] denkenden Prager deutschen Schriftstellern, die jüdischer Herkunft waren, hätte ihr seinerzeit [1983] geschadet. Auch eine thematische Nähe zum [in der ČSSR] kontroversen Werk Franz Kafkas und mit anderen Prager deutschen Schriftstellern, dessen Texte meistens den Vorstellungen von ‚hochwertiger sozialistischen Literatur‘ nicht entsprachen, wäre damals für Reinerová keinesfalls günstig gewesen.“ In der Tat gab es vor dem Prager Frühling an der Karls-Universität Prag eine erste Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur, deren Leiter der spätere Prof. Dr. Kurt Krolop war. Kurt Krolop war es auch, der bei den beiden Liblicer Kafka-Konferenzen – 1963 als Gast, 1965 als Referent – anwesend war. Wie politisch brisant die literarische Nähe zu den Prager deutschen Schriftstellern, insbesondere zu Franz Kafka, in der ČSSR sein konnte, zeigt ein Auszug aus dem von Prof. Weinberg verfassten Arbeitsprogramm zur Kurt Krolop-Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur an der Karls-Universität Prag, die am 29. Mai 2015 neu eröffnet wurde:
„Welche Widerstände gerade bezüglich dieses Autors zu überwinden sind, zeigte schon die erste Liblice-Konferenz von 1963, die einen ‚Franz Kafka aus Prager Sicht‘ versprach, sich tatsächlich aber nur in Reflexionen zu einer Kafka-Lektüre aus marxistischer Perspektive erschöpfte. [...] Es spricht für sich, dass Eduard Goldstücker die Prager deutsche Literatur auf der zweiten Konferenz in Liblice 1965 erst mit dem Erscheinen von Rilkes erstem Gedicht-Band 1894 beginnen lässt. Denn nur im Zeichen der drei großen ‚weltbedeutenden‘ Autoren Rilke, Werfel und Kafka konnte es gelingen, dieser eine von ‚verdächtigen‘ ideologischen Tendenzen völlig freie Sonderstellung zuzuschreiben, die deren Thematisierung unter den Bedingungen des Sozialismus überhaupt erst erlaubte. Das kommunistische Regime förderte indes solche Forschungen nicht; dennoch konnte sich eine erste Arbeitsstelle zur Prager deutschen Literatur an der Akademie der Wissenschaften konstituieren [...], die aber Anfang der 1970er Jahre aufgelöst wurde [...]“
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Erst nach der Wende erlaubte sich Lenka Reinerová, aber auch der Presse, die sie in Szene setzte, die Zuschreibung zur Prager deutschen Literatur und das Label „letzte Prager deutsche Schriftstellerin“. Dies war sowohl für den nach der Wende neu orientierten Berliner Aufbau-Verlag, als auch für die bundesrepublikanische Presselandschaft nützlich, so dass sich das mediale Bild der „letzten Prager deutschen Schriftstellerin“ verfestigte. Der DAAD-Lektor Dr. Thomas Schneider stellte aus dem Publikum heraus die provokante, aber auch berechtigte Frage nach dem Lesegewinn, den ein heutiger Leser bei der Lektüre der Texte Reinerovás habe. „Natürlich kann man von keinem Autor verlangen, seinen eigenen Erfolg zu verhindern“ gab Prof. Weinberg zu bedenken. Markéta Balcarová machte aber auf die enorme Bedeutung der Reinerová als Zeitzeugin aufmerksam und wie mit intellektuellen, oft bilingualen jüdischen Schriftstellern, in deren historischem Kielwasser sie sich eindeutig befand, in der ČSSR verfahren wurde.
An dem Haus befindet sich neben dem Eingang eine Gedenktafel.
Was die Texte Lenka Reinerovás heutigen jungen Lesern vermitteln können, sind die Erinnerungen einer bemerkenswerten Dame, die natürlich nicht die große Zeit des sog. „Prager Kreises“ (1910 – 1920) miterlebt haben konnte, aber neben Egon Erwin Kisch auch andere literarische Vertreter ihrer Zeit kennengelernt hat, einer Frau, die ihre gesamte Familie im Holocaust verlor, selbst vor den Nazis floh, mehrfach inhaftiert wurde und trotzdem ihren Lebensmut nie verlor. Es scheint, als wenn das Schicksal von ihr verlangt habe, dass sie erst auf die Sanfte Revolution von 1989 warten musste, um endlich frei sprechen und schreiben zu können, denn sie hatte vieles zu berichten.
Prag, 01. Mai 2017
Konstantin Kountouroyanis
Artikellink: http://www.prag-aktuell.cz/blog/die-letzte-prager-deutsche-schriftstelle...