Jetzt wird’s ernst bei der WM, jetzt ist jedes Spiel Tulpen oder Gladiolen, wie NL-Coach van Gaal mal sagte, in einer fernen Zeit, damals, als „Müller spielt immer“ noch neu und innovativ war. Heute ist das rückwärtsgewandt, wäre man froh, ein deutliches „Müller spielt nimmer“ zu vernehmen. Aber das ist ein anderes Thema.
Drohender Hagel über dem Tulpenfeld
Gleich nach zwei Minuten hätte Pulisic das Tulpenbeet gehörig verhageln können, scheiterte aber am reaktionsschnellen Wärter, der schnell noch eine Schutzplane über das Beet zog. Dann ging es metaphernfrei so weiter, wie man es von einem dreifachen Vizeweltmeister gegen einen übereifrigen Emporkömmling erwarten konnte, die Routine setzte sich durch, mit Effizienz zogen die Bloemenzüchter dem Schmelzkessel den Zahn.
Fußball wird unwichtig
Ich saß in meinem Wohnzimmer, verfolgte das Geschehen interessiert und ließ mir von meiner Schwester die Ereignisse um meine Mutter erzählen. Altersdemenz, jetzt ist es amtlich, ein Weiterwohnen in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich. Ein Platz im Pflegeheim ist aber schon in Aussicht. Vielleicht das letzte Mal Weihnachten mit ihr und meiner Tochter, bevor der Vorhang des Bewusstseins ganz zugezogen wird. Man verzeihe mir, dass ich bei diesen Themen ein wenig die Konzentration aufs Spiel verlor. Beim ersten deutschen WM-Sieg war meine Mutter ein Backfisch, beim zweiten dreifache Mutter, beim dritten waren die Kinder aus dem Haus und beim vierten war sie Witwe und noch rüstige Rentnerin. Aus Fußball hat sie sich nie besonders viel gemacht, in ihrer Jugend war Feldhandball der populärste Sport im Dorf, dabei machte man sich nicht so schnell die Schuhe kaputt.
Kurze Spannung
Ach ja, NL – USA, für wenige Minuten kam nach dem Anschlusstor nochmals Spannung auf, doch dann war der Drops gelutscht. Der Favorit setzte sich schlicht souverän durch. (Übrigens sprach van Gaal im Original von „Tod oder Gladiolen“, das nur nebenbei, um der Korrektheit Genüge zu tun).
Abends versuchte ich mal wieder public viewing, ich hatte den Tipp bekommen, dass die Expats sich nicht mehr in Freds Bar, eigentlich ein Restaurant, treffen, sondern in einem umbenannten Laden, der nach einem amerikanischen Schriftsteller benannt ist, der ab den 1960er Jahren gerne über Saufen, schmutzigen Sex und Schlägereien geschrieben hatte. Ich schaute von außen rein, nichts deutete darauf hin, dass sich dort fußballtechnisch etwas tue. Ich wusste, es gab noch einen hinteren Raum, von der Straße schlecht einsehbar, wo die Gäste angeblich rauchen durften. Was ich jedoch sehen konnte, war Dunkelheit, gähnende Leere und WM-Boykott.
Messi in der Kaschemme
Also ging ich zwanzig Meter weiter in die Punk Kaschemme, in der ich 2018 einige Spiele gesehen hatte. Dort lief der Fernseher, es war wenig los und das Interesse an Messi mäßig. An diesem Abend stellte ich die Doktrin auf, Messi muss Meister m... (hm, machen?, mutieren?, malträtieren?, manufaktieren?), sonst hat mein Leben keinen Sinn. Wenn der Beste nicht endlich so auf seinem Thron Platz nehmen darf wie Infantino bei all diesen Spielen im Stadion, bleibt etwas in diesem Leben unerfüllt.
Das Spiel war durchwachsen, Australien weit dröger als die USA, Argentinien jedoch deutlich vorsichtiger als im Spiel gegen Polen. Ich musste zwei Meter näher treten, vor vier Jahren konnte ich die Spiele noch von der Bar aus betrachten, heute gab das meine Sehkraft nicht mehr her. Auch versuchte ich mich vergebens daran zu erinnern, gegen wen sich dieses schwache Australien in der Gruppe eigentlich durchgesetzt hatte. Durch logische Rückschlüsse kam ich darauf, dass es Qatar gewesen sein musste, die Mannschaft, die in diesem Turnier außer Konkurrenz mitspielen durfte. Also hat Australien Ecuador besiegt? Das erschien mir unwirklich, ich hatte keinen blassen Schimmer. Fängt das jetzt bei mir auch schon an?
Messi macht's
Messi, wer sonst, schoss das 1:0, später kam noch ein 2:0 hinzu, ein australische Zufallstor ließ Messis Mannen nochmals kräftig zittern, eine Glanzparade rettete sie in der drittletzten Sekunde vor der Verlängerung und es war überstanden. Also, das Achtelfinale. Doch so wird Argentinien, zwei Mal Weltmeister und drei Mal Vize, leider nicht weiter gewinnen. Am Ende, als es nochmals eng wurde, hat jeder die Verantwortung auf Messi geschoben – und Messi hat gedribbelt, vorbereitet, Sekunden geschunden. Das geht auf Dauer nicht gut.
Nach dem Schlusspfiff überlasse ich die Kaschemme den Trinkern und Rauchern, gehe am Bukowski's (s.o.) vorbei, wo mich eine Blonde heftig hineinwinkt. Ich vermute, eine Russin, winke erfreut zurück und gehe weiter. Zu Fred's Bar, wo ich mal von außen einen Blick hineinwerfen möchte. Eine Gestalt am Tresen erkenne ich von hinten und höre durch die dicken Wände, wie er mit halblauter wässriger Stimme die Zeremonie der Rechnungsbegleichung einleitet: Kip, amerikanisches Expat-Urgestein. Nach Radio Jason suche ich nicht, sondern gehe lieber nach Hause, wo ich mich zeitig zur Ruhe begebe.