Prag - Es ist so richtig ein Sonntag, um die WM zu schauen. Schade, dass die Spiele erst am Abend beginnen, sonst könnte man sich den verregneten Nachmittag angenehmer vertreiben. In einer Regenpause wage ich mich in den Park, wo ich versonnen auf die Stadt hinunterblicke, auf den Veitshügel mit der größten Bronzereiterstatue der Welt mit einem Reiter mit Augenklappe, dem hussitischen Heeresführer Jan Žižka, am Vortag habe ich den nach ihm benannten Stadteil besucht und die ersten Regentropfen während des Spätspiels haben bereits auf die heutige Wetterlage vorausgedeutet.
Luis van Gaal bereitet die Revanche vor
Holland spielt gleich, unter Luis van Gaal. Das Feierbiest in München, Tod-oder-Gladiolen-Luis, der vor vier Jahren das Triple zu 75 % gewonnen hat. Nach München ist er gelotst worden, weil die Bayern ihren Spielstil reformieren wollten, zu lange hatten sie in der Champignon-Liga nichts mehr gerissen, in einer guten Saison war im Viertelfinale Schluss. Luis van Gaal half mit, das mittlerweile unansehnliche Tiki Taka des FC Barcelona zu erfinden, das machte ihn zur geeigneten Person für Uli Hoeneß Reformbemühungen, den ewigen Bundesligameister auch mal wieder international oben sehen zu können. Und mit van Gaal hätte es fast auch geklappt, er scheiterte im Endspiel an Jose Mourinho und am Italien-Komplex deutscher Mannschaften.
Van Gaal erfindet das deutsche Spiel
Van Gaal hat den Besitzfußball in München etabliert, in der Stadt der Gut-Situierten kam das auch gleich gut an. Zum Verhängnis wurde dem rechthaberischen Holländer aber die bayerische Vereinspolitik und das Machtgefüge im Verein. Bei den Bayern muss stets der beste deutsche Torwart spielen, lautet eine Maxime des Großklubs.
Van Gaal hat den Besitzfußball in München etabliert, in der Stadt der Gut-Situierten kam das auch gleich gut an. Dann erklärte er Müller zum unentbehrlichen Bestandteil seiner Mannschaft, erfand gleich nebenbei noch Holger Badstuber, der ohne seine lange Verletzung sicher eine weitere Option in Yogi Löws Vorstopperparade geworden wäre, den er irgendwo auf dem Spielfeld platziert hätte. Und van Gaal brachte auch Alaba, doch der ist leider Österreicher und damit für die WM nicht spielberechtigt. In van Gaals zweiter Münchner Saison spielte Dortmund alle und alles gegen die Wand, die Bayern schieden schon im Achtelfinale der Champignon-Liga nach Brenos Schusseligkeit aus. Zum Verhängnis wurde dem rechthaberischen Holländer aber die bayerische Vereinspolitik und das Machtgefüge im Verein. Bei den Bayern muss stets der beste deutsche Torwart spielen, lautet eine Maxime des Großklubs. Der hieß gerade Neuer, spielte aber noch auf Schalke. In der Winterpause setzte sich van Gaal in den Kopf, Neuers Platzhalter, den alternden Jörg Butt, zu ersetzen. Er brachte nicht etwa Rensing, den von Hoeneß in seinen diktatorischen Anwandlungen zum besten Torwart Deutschlands bestimmten, an dem bereits Jürgen Klinsmann als Trainer gescheitert war, sondern seinen dritten Torwart mit dem schönen Namen Kraft. Nach dessen erstem Patzer verlor van Gaal die Kraftprobe und durfte gehen. Das nagt sicherlich noch an ihm. Kraft verschwand kurz darauf nach Berlin, Rensing nach Köln, Butt hörte irgendwann einfach auf.
Über den Stand der Fußballkunst
Die deutsche Nationalmannschaft spielt ja nichts anderes als Bayerns Ballbesitzfußball, den van Gaal dort eingeführt hat. Er kennt Yogi Löws Personal ganz genau. Die deutsche Nationalmannschaft ist sozusagen der Stand der Kunst gestern. In der Champignon-Liga geht die Entwicklung aber weiter, wie man an der vergangenen Saison gesehen hat. Massive Defensive und überfallartige Konter, so hat Real Madrid die Bayern ausgeknockt. Unglaublich große Laufbereitschaft in der Defensive und schnelles Suchen des Abschlusses, so wäre Atlético Madrid um ein Haar Sieger dieser ominösen Champignon-Liga geworden. Den Bayern hat diese Taktik auch eine ganze Weile nicht gelegen, in den bitteren Jahren der Niederlagen gegen Dortmund. Van Gaal weiß also, wie es geht und wie man gegen Deutschland gewinnen kann. Außerdem hat er Robben, in Höchstform nach einer längeren verletzungsfreien Zeit. Was für ein Szenario, van Gaal nimmt im Endspiel Revanche an Bayern, also Deutschland, im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro, dem berühmtesten Fußball-Ort der Welt (auch wenn es sich nicht mehr um das alte Maracana handelt). Vorher können beide Mannschaften nicht aufeinander treffen. Ich sehe schon, was in dieser Geschichte alles steckt. Doch dann fängt es wieder an zu regnen, ich gehe nach Hause und bereite mich auf das Spiel vor.
Mexiko spielt stark...
Mexiko steht traditionellerweise im Achtelfinale und spielt richtig gut, während Holland sehr bedächtig beginnt. Es ist heiß, den Mexikanern liegen die klimatischen Bedingungen mehr als den Holländern. Die zeigen, was in ihnen steckt, mein Gott, wie oft die hohes Bein spielen ist unglaublich. Da der Schiedsrichter großzügig auslegt, entwickelt sich die Begegnung in Richtung des berüchtigten Spiels zwischen Portugal und Holland während der WM 2006 (vier Platzverweise). Auch Mexiko kann durchaus ordentlich hinlangen, ist jedoch um mehr spielerische Linie und das Herausarbeiten von Torchancen bemüht. Nach einer halben Stunde unterbricht der Schiedsrichter die Partie für ein „waterbreak“, das habe ich so auch noch nicht gesehen. Ein wenig abgekühlt geht es weiter, die Mexikaner ballern wieder öfter aus der Distanz, bei Holland spielt mit Verhaegh der erste holländische Nationalspieler des FC Augsburg, herzlichen Glückwunsch! Trotz Bemühungen passiert in Hälfte eins nichts mehr, es muss auch niemand mehr vom Feld getragen werden.
...geht in Führung...
Dos Santos haut ein Weitschuss nach etwa zehn Minuten in der zweiten Hälfte wunderbar in den Kasten, kurz danach muss Verhaegh runter, ihn trifft jedoch keine Schuld am Gegentor. Holland arbeitet sich zurück, sie stellen den Modus auf Offensive um und drücken Mexiko zunehmend nach hinten. Im Laufe der Zeit kommen Chancen hinzu, Ochoa hält weiterhin überragend, manchmal wie ein Handballtorwart. Nach dem zweiten waterbreak verliert jeder den Überblick, wie viele Minuten eigentlich noch zu spielen sind, auf jeden Fall hätte Mexiko nicht mehr lange zu überstehen gehabt, um endlich mal wieder ins Viertelfinale einzuziehen. Van Gaal lässt Tod oder Gladiolen spielen, Huntelaar kommt und dann klappts, Flanke, komische Kopfballrücklage, so sicher nicht gewollt, Snejder rauscht von hinten an, nimmt den Ball volley und haut ihn etwa vom Elfmeterpunkt ins linke untere Eck, nichts zu machen für Ochoa. Es ist zu heiß für Verlängerung, die beinahe geknickten Tulpen richten sich wieder auf, Robben dribbelt an der Auslinie im Sechzehner, schlägt einen Haken und Marquez, ausgerechnet der erfahrene Marquez, fällt darauf herein und streckt das Bein aus. Robben stürzt dankend darüber, Huntelaar genau vom Elfmeterpunkt unhaltbar flach ins linke Eck, Mexiko fährt wie so oft nach couragierter Leistung gegen einen großen Gegner nach dem Achtelfinale nach Hause. Alles wie gehabt.
...und verliert im Achtelfinale
Ich treffe Nick in Fred’s Bar, er ist zurück aus England, dem Mutterland des Fußballs, an dessen Brust heute jeder Säugling verhungert. Er mag Griechenland auch nicht, wie alle in Prag außer den Griechen, von denen ich aber nicht weiß, wo sie sich versammeln.
So wird man Weltmeister denke ich mir und gehe wieder nach Hause, um mich zu stärken. Ich lese in Albert Camus Reisetagebuch, wie es bei der Schiffsüberfahrt nach Amerika wohl zugegangen ist, damals. So müssen sich die europäischen Teams gefühlt haben, 1930 bei der ersten WM in Uruguay. Sind sie 1950 bei der WM in Brasilien schon geflogen oder noch mit dem Schiff gefahren? Eine knifflige Frage ist das, auf die ich keine Antwort habe.
Die Griechen sind sicherlich geflogen, auch wenn sie eine Seefahrernation sind, jedoch eher im mediterranen Bereich unterwegs, weniger im Überseebereich. Ich treffe Nick in Fred’s Bar, er ist zurück aus England, dem Mutterland des Fußballs, an dessen Brust heute jeder Säugling verhungert. Er mag Griechenland auch nicht, wie alle in Prag außer den Griechen, von denen ich aber nicht weiß, wo sie sich versammeln. Wie immer bei Griechenland-Spielen bin ich deren einziger Unterstützer. Diesmal verzichte ich auf das Tragen des 2004-Gedächtnis-T-Shirts, das hat der Mannschaft bisher immer Pech gebracht. Ich muss Nick vom anderen Achtelfinale erzählen, das er im Flugzeug nicht sehen konnte. Dann muss ich Nick meine Griechenland-Sympathie erklären. Otto Rehagel, wie van Gaal ein Bayern-Geschädigter, nahm 2004 nicht nur Rache an Deutschland, sondern gleich am ganzen Fußball. Er spielte wieder mit Libero, langen Bällen und langen Kerls. Außerdem ließ er Eckbälle trainieren. Im griechischen Team steckt noch etliches von Rehagels Geist, es ist schön mit anzusehen, wie die Griechen den Spielstil der 1980er konserviert haben. Warum sollen ausgerechnet Griechen auch jeden neuen Modefirlefanz mitmachen? Sie haben die Olympischen Spiele und damit den Sport als Event erfunden, damals durften sogar Dichter daran teilnehmen.
Ich entdecke Costa Ricaner
Es ist sogar ein echter Costa Ricaner im Stadion, ich meine, in Fred’s Bar. Seit Jahren habe ich nicht mehr so viele Costa Ricaner auf einen Haufen gesehen, kommentiert er beim Anblick der einlaufenden Spieler. Nick schwant nichts Gutes bei dem Spiel, der gepflegte lange Ball erinnert ihn an Mannschaften aus der englischen zweiten Liga. Griechenland versucht es öfter über die außen, die Stürmer werden mit einer Neuerung des Spiels vertraut, dem sogenannten Doppeln. Wenn sie einen umspielt haben, steht da gleich der nächste und nimmt ihnen den Ball ab. Weitschüsse sind auch ein probates Mittel. Costa Rica versucht es eher spielerisch, doch gegen Griechen ist das schwer. Meine These lautet, dass die Griechen die Europäer sind, die am besten mit dem Klima klarkommen. Die Sommer sind heiß und das Meer meist nah, also ist die Luft feucht.
Harter Platzverweis
Mit meiner These ernte ich skeptische Blicke, jedoch spielen die Griechen nach dem Rückstand gnadenloses Pressing bis zum Abpfiff der zweiten Hälfte der Verlängerung. Das wiederum erleichtert ihnen der Schiedsrichter immens, nachdem er einen Costa Ricaner vom Platz gestellt hat. Zugegeben, es war ein hartes Einsteigen, es war ein Foul, war es aber eine glatte rote Karte? Harte Entscheidung, die das Spiel natürlich kippen lässt. Unbeirrt arbeiten sich die Griechen Flanke um Flanke heraus, Gekas kommt rein, der altbekannte Strafraumwühler, einst Torschützenkönig der Bundeliga mit etwa 20 Treffern als Stürmer des VfL Bochum. Nick ahnt nichts Gutes. Er möchte eigentlich ins Bett, ein harter Arbeitstag wartet auf ihn, drei Stunden Englischunterricht mit Anfängern ab 9. Jetzt bloß keine Verlängerung. Ich muss zwar noch früher ran, sehe dem griechischen Treiben jedoch mit Wohlwollen entgegen. Zehn Jahre nach der Europameisterschaft wäre diese Mannschaft mal reif für eine Weltmeisterschaft, Griechenland wird im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro Weltmeister, das wäre ja mal eine Geschichte und ich würde sofort beginnen, Griechisch zu lernen.
Später Ausgleich
Dann folgt die Griechen-Gala (gala, zu deutsch, Milch) in ihrer Spezialdisziplin, entscheidendes Tor in letzter Sekunde. Wieder mal ein Ball in den Strafraum, Gekas nimmt wunderbar an, schließt aus der Drehung ab, der Torwart kann den Ball nur nach vorne abklatschen, der Nachschuss sitzt. Verlängerung. Nick stöhnt auf, shit. Missmutig verlassen wir Fred’s Bar (schließt um 12) und gehen gegenüber in Dan’s Bar.
Noch mehr Costa Ricaner
Hier hätten wir schauen sollen, hier sitzt eine ganze Familie Costa Ricaner, schön bemalt und bekleidet und hat sicher vor dem Spiel ein buntes Programm produziert, in der Ecke steht noch eine elektrische Orgel für Alleinunterhalter. Sie stöhnen natürlich während der folgenden Verlängerung, einen Mann weniger gegen Griechen, die einfach so weiterspielen wie nach dem Platzverweis. Ich sehe meine These von der besseren klimatischen Angepasstheit bestätigt und bin natürlich wieder der einzige, der den Griechen helfen möchte. Das Tor wackelt, will und will aber nicht fallen, Costa Ricaer bringt in der letzten Stunde der gesamten Spielzeit kaum mehr als weit weg geschlagene Befreiungsschläge zustande. Griechenland hält Costa Rica im Klammergriff, kann es aber nicht auf die Schultern zwingen. Elfmeterschießen.
Elfmeterquote: Fast 90 Prozent
Auf beiden Seiten verwandeln die jeweils ersten drei Schützen bombensicher. Nick kann es gar nicht fassen, dass man auch so Elfmeter schießen kann.
Auf beiden Seiten verwandeln die jeweils ersten drei Schützen bombensicher. Nick kann es gar nicht fassen, dass man auch so Elfmeter schießen kann. Dann ist wieder Costa Rica dran, unhaltbar. Jetzt Gekas, gut geschossen, aber glänzend pariert. Trifft Costa Rica, ist es vorbei, andernfalls erhält Griechenland noch die Chance zum Ausgleich. Anlauf, Schuss, wieder sicher verwandelt. Jetzt gehts im Viertelfinale gegen Holland. Nick und ich bereiten bereits die letzten vier Achtelfinale vor. Frankreich gegen Nigeria, Deutschland gegen Algerien, Argentinien gegen die Schweiz. Er schaut mich an: Glaubst du wirklich an eine einzige Überraschung in diesen Spielen? Nein, daran kann ich auch nicht glauben. Einzig die Partie USA gegen Belgien scheint mir offen. Wir beide gehen dann gleich nach Hause, jeder für sich. Ich komme nicht einmal auf den Gedanken zu fragen, ob die Costa Ricaner zum Viertelfinale wieder in Dan’s Bar erscheinen. Das wird dann vielleicht doch eher ein Fall für das Casa Blu, wenn man möglichen Konfrontationen mit Holländern aus dem Weg gehen möchte.
Es zeichnet sich bereits deutlich ab, die FIFA-Oberregierung steuert ein Halbfinale zwischen Brasilien und Deutschland sowie Argentinien und Holland an. Es würde mich wundern, wenn nicht wenigstens ein südamerikanisches Team das Finale erreicht, hoffentlich aber nicht Brasilien.
Gerd Lemke