Und los geht’s gleich wieder um drei Uhr nachmittags – leider aber ohne mich. Habe mich gerade so schön eingeschrieben, dass ich meinem Mitbewohner, der sich gegen zwei aus seinem Bau gewagt hat, eine abschlägige Antwort geben muss. Die Arbeit geht vor und leider ist noch lange der Zeitpunkt des Tages nicht gekommen, um der Versuchung nach einem alkoholischen Gerstensaft nachzugeben.
Ich bekomme jedoch auf dem Weg zu meinem Abendkunden immerhin das Ergebnis mit. Denn ich breche von meinem vorgesehenen Weg zur Arbeit kurz rechts aus, wirklich nur kurz, in ein übles verrauchtes Loch, wo ein paar verwegene Gestalten auf einem Bildschirm die letzten Sekunden des Spiels gleichmütig vorbeilaufen lassen. Die Reaktionen auf die letzten russischen Bemühungen, einem Freistoß und einen Eckball, lassen absolut keine Aussagen über eine mögliche Sympathieverteilung zu.
Mein Deutschschüler erklärt mir dann, wie eines der beiden Tore gefallen ist. Ich verstehe, dass es einen Eckball für die Slowaken gab, bei dem die Russen mit hängendem Kopf und sichtlichem Desinteresse auf eine hohe Flanke gewartet haben, obwohl sich überhaupt kein Slowake in Strafraumnähe befunden hat. Stattdessen wurde die Ecke woanders hingepasst, wohin, habe ich nicht genau verstanden, nur dass entweder einen Schuss aus spitzem Winkel oder in die äußerste Ecke gefolgt ist. Später sehe ich, dass die Slowaken zwei höchst sehenswerte Treffer erzielt haben, worauf der russische Bär keine Antwort gefunden hat.
Dann unterhalten wir uns über das tschechische Team. Plašil ist zu langsam und zu weich, Limberský zu dumm, erfahre ich. Nur Rosický kann spielerische Zeichen setzen, der Mann, der das ganze Jahr verletzt war. Insgesamt war die Vorstellung enttäuschend, obwohl Tschechien beinahe noch ausgeglichen hätte. Zu wenig Ballsicherheit, zu langsam und dann die falsche Auswechslung von Gebre Selassie. Wie konnte der drei Minuten vor Schluss zu müde sein, um das Spiel ordentlich zu Ende zu spielen und seine linke Abwehrseite dicht zu halten. So klaffte gleich nach seiner Auswechslung das Loch, das Iniesta zu seiner Torvorlage, eine Flanke auf Pique, nutzte.
Die Argumentation gegen das tschechische Team kam mir eigentümlich bekannt vor. Sie gleicht in groben Zügen der Abrechnung mit dem tschechischen Eishockeyteam im Jahr zuvor, als die Truppe bei der Heim-WM nicht den Hauch einer Chance gegen Kanada hatte und auch das kleine Finale gegen die USA vergeigt hatte.
Wir gingen zu den weiteren Chancen in diesem Turnier, in dem ja Fußball gespielt wird, über. Eher gegen Kroatien als gegen die Türkei sagte mein Schüler voraus. Wobei, gegen die Türkei ist alles möglich, ein Dreinull Sieg oder eine Niederlage in gleicher Höhe: Die Türken sind wie wilde Pferde. Der weitere Ausblick über die Situation des Landes und die tschechische Mentalität fiel auch nicht sehr positiv aus, doch das gehört zum tschechischen Brauchtum, die gehörige Nestbeschmutzung mitsamt dem negativen Ausblick. Wir redeten, bis das zweite Spiel des Tages tief in der ersten Hälfte war, dann machte ich mich in der Prager Altstadt auf, einen geeigneten Schauplatz zu finden. Beim Halbzeitstand von 1:0 für die kanariengelb dressierten Balkaner begann ich die Suche, nach einigen verworfenen Etablissements landete ich dann im Goldenen Tiger. Zwischenzeitlich hatte ich in einer Pizzeria sogar Rumänien getroffen, doch wog mir deren Anwesenheit den erhöhten Bierpreis nicht auf.
Der goldene Tiger wird sicherlich ein einmaliger Ausflug bleiben, die verqualmte Bierschwemme mit der Büste des Literaten Bohumil Hrabal eignet sich denkbar schlecht für Betrachtungen in Ballsport, zu viele der anwesenden Gäste scheinen das Spielgerät schlichtweg verschluckt zu haben.
Ein Tor bekomme ich nicht mehr zu sehen, es bleibt bei dem Unentschieden, auf das sich das Spiel vor meinem verspäteten Eintreffen eingepegelt hat.
Dann habe ich Zeit zur Platzwahl und mache mich in den Rieger-Park auf. Es hat sich auf den ersten Blick kaum etwas gegenüber all den vorherigen Turnieren geändert, die ich dort durchstanden haben. Diesmal setze ich mich, wie meist zu der etwas kleineren Leinwand, die das etwas schärfere Bild bietet. Natürlich bekomme ich die französische Nationalhymne zu hören, natürlich sind die meisten Zuschauer jünger als ich, natürlich wird gekifft, gequalmt, und zweifelhaft aussehende Wurst gegessen, wer achtet in diesem Alter schon auf die Gesundheit oder auf die Figur – auch wenn manche, insbesondere eine gewisse Sorte von amerikanischen bitches, damit nicht früh genug anfangen könnte.
Trainer Deschamps machte seine Drohung wahr und ließ gegenüber dem ersten Spiel Pogba und Griezmann auf der Bank. Ob das wirklich ein kluger Schachzug war, kann nach dem Spiel stark bezweifelt werden. Denn erst mit Pogbas Einwechslung nach der Pause kam richtig Zug ins Angriffsspiel. Torraumszene nach Torraumszene spielte sich im albanischen Strafraum ab, nur einmal schlugen die Albaner zurück und scheiterten am Pfosten. Mit jedem Kopfball näherte sich Giroud näher ans Tor an, bis er schließlich den Pfosten anvisiert. Doch danach war für ihn Schluss und es kam Griezmann. Gleich wurde ich in die richtige Aussprache des Namens eingeweiht, Griesmo, mit weichem s und offenem, nicht übertrieben nasalisiertem o. Wer es noch nicht weiß, ahnt sicherlich schon, was dann folgte. Doch nicht gleich, sondern wieder wartete die grande nation bis ganz kurz vor Schluss, bis es fiel es, das erlösende Tor, Flanke, Griezmann allein und treffsicher. Fünf Minuten gab es als Zuschlag, die jedoch nicht Albanien zum Ausgleich, sondern Payet zu seinem zweiten Turniertreffer nutzte und sich damit an die Spitze der Torjägerliste gesetzt hat, zusammen mit dem rumänischen Elfmeterkönig Stanciu (oder so), gefolgt von Shkodran Mustafi, Bastian Schweinsteiger und so manchem anderen großen Namen (alle ein Tor). Frankreich ist durch, Albanien mit einem Bein draußen.