Gleich vorweg, ich weiß nicht mehr genau, wie dieses absurdeste aller Elfmeterschießen auf allerhöchstem Niveau ausgegangen ist, ich weiß nur, dass sich am Ende Gary Lineckers Altvorderenweisheit bewahrheitet hat. Fußball ist ein Spiel mit elf undsoweiter undsofort. Egal, es war ein Spiel, von dem man seinen Enkeln noch erzählt. Wenn man Deutscher ist. Dabei fing alles gar nicht so gut an.
Ein prächtiger Sommerregen ergoss sich wenige Stunden vor Anpfiff über die goldene Stadt. Es stellte das gesamte Ritual des Besuchs im Rieger-Park-Stadion in Frage. Doch etwas mehr als eine Stunde vor Anpfiff setzte der Regen aus, obwohl die düsteren Wolken immer noch den Horizont des hügeligen Häusermeers einengten. Sollte ich es wagen? Wollte ich es wagen? Es musste gewagt werden. Keine Heimeinpferchungen mehr wie bei der WM 2006, das Viertelfinale gegen Argentinien in meinem Schlafzimmer, einsam vor dem Bildschirm, alleingelassen mit der Spannung. Nein, ich fühlte mich tiefenentspannt. Ja, was so ein WM-Sieg wie der vor zwei Jahren doch alles ändern kann. Wir spielen gegen Italien. Gegen die wir noch nie ein wichtiges Spiel gewonnen haben. Das ist egal. Wir gewinnen ja auch technisch gesehen diesmal nicht, aber wir kommen eben weiter. Obwohl drei der ersten fünf Elfmeterschützen im Elfmeterschießen versagen. Das hat man von einer deutschen Nationalmannschaft noch nie gesehen. Und wer dann da versagt hat. Nicht irgendwer, sondern Müller, der Glücklose, Özil, der Übergenaue und Schweinsteiger, ja richtig, Schweinsteiger, das Fossil. Die Jungen müssen diesmal den Alten zeigen, wie es geht. Draxler, unwiderstehlich. Kimmich, drin. Jonas Hector, du Goldjunge aus Auersmacher, hast nicht nur ein großes Spiel gemacht, sondern beim Elfer das Glück auf deiner Seite. Den Ball absolut flach gehalten und da fällt der alte Buffon, das Schlitzohr, nicht schnell genug und das war's. Warst du nun der neunte oder der zehnte Schütze? Bei diesem Wechselbad der Gefühle komme ich einfach durcheinander. Wäre da noch ein Feldspieler gewesen, der Höwedes etwa, der als nächster rangemusst hätte, oder wären dann schon die Torhüter dran gewesen? Hat das Elfmeterdrama nun 6:5 oder 7:6 geendet? Fragen für die Statistiker, aber nicht für die Epiker. Deutschland hat gewonnen und das auch vollkommen verdient. Da gibt es keine zwei Meinungen. Kann es nicht geben, jawoll!
Dreierketten
Vor dem Drama fanden noch mehr als zwei Stunden Fußball statt. Löw baut auf die Dreierkette mit Boateng, Hummels und Höwedes. Links spielt Hector, rechts Kimmich, aber offensiver als gewohnt. Dafür muss Draxler zunächst auf die Bank, darf aber später kommen und hat ein, zwei höchst gefährliche Aktionen. Und schießt später den Elfer souverän rein. Draxler beweist, dass der Wechsel von Schalke nach Wolfsburg ihn weitergebracht hat. Aber nach diesem Turnier darf er auf keinen Fall in der Autostadt bleiben. Dortmund sollte überlegen, ihn zu holen statt Schürrle. Oder ein anderer großer Klub aus dem Ausland. Der muss unbedingt jetzt den nächsten Schritt machen.
Das Spiel im vollbesetzten Rieger-Park-Stadion fängt seltsam an. Ich sitze am Tisch mit meinen hinlänglich bekannten Bekannten, dazu stößt noch mein Lieblingsfeind, ein Finne, wir ignorieren uns stets, wenn wir uns sehen, ein kiffender Engländer, tja, schon wieder diese stinkenden Zigaretten, die ich kategorisch ablehne. Kiffen und Fußball, nein. Ich bin nicht auf einem Reggae-Konzert und will meine Emotionen auch nicht in einen Schleier einpacken. Am Tischende sitzen noch zwei Deutsche, wir unterhalten uns ungeniert in unserer Muttersprache. Nebenan sitzen ein paar Italiener, das ist die Fankurve überwiegend der Deutschen, doch zwischen italienischen Fans und deutschen gibt es in der Regel keine Aggressionen. Man respektiert den Jubel der anderen und antwortet mit eigenem darauf. Wir sind halt die alten Fußballnationen, die in der Not Europas Fahne bei einer WM hochhalten müssen. Bei der EM sieht das etwas anders aus, das hat Italien nur einmal gewonnen. Und das bei diesen anfänglichen Mini-Turnieren, zu denen sich nur vier Mannschaften in einem der Länder trafen. Dann gab es Halbfinale, Finale und Spiel um Platz drei. Italien hat das Turnier 1968 in typisch italienischer Manier gewonnen. Im Halbfinale durch Münzwurf gegen die Sowjetunion – es war der letzte Münzwurf bei einem großen Turnier – und das Finale im Wiederholungsspiel gegen Jugoslawien. Münzwurf und Wiederholungsspiel, das sind vorsintflutliche Fußballereignisse, in der heutigen Zeit nicht mehr denkbar. Wo sollte in dem überaus eng gestrickten Fußballkalender heute noch Platz für ein Wiederholungsspiel sein?
Beide belauern sich
Nun, das Spiel beginnt überaus seltsam. Der kiffende Engländer kommentiert es so, dass sich beide Mannschaften zu ähnlich sind. Das kann man so sehen, beweist jedoch einzig, dass Engländer wenig Ahnung von Taktik besitzen. Beide Teams belauern sich und gehen bis an den Rand der Fairness in die Zweikämpfe. Torszenen sind Mangelware, aber das war auch nicht anders zu erwarten, denn dort spielt Deutschland, im Turnierverlauf ohne Gegentor, gegen Italien, dessen B-Mannschaft im lustlosen Kick gegen Irland um ein solches nur gebettelt hat. Was macht Kimmich? Er spielt ja diesmal weiter vorne, auf dem rechten Flügel, er ist ja auch eigentlich Mittelfeldspieler. Kimmich unterlaufen in diesem Spiel etliche Stockfehler, er reibt sich an der italienischen Defensive auf, aber er spielt und macht seine Sache ordentlich. Das sind nämlich genau die Spiele, in denen solche blutjungen Spieler heranreifen.
Deutschlands Spiel zentriert sich auf Gomez, der ein gutes Spiel macht, das vorweg, wenn er auch diesmal nicht trifft. Er hat kurz vor seiner Auswechselung eine große Chance, die Buffon glänzend pariert. Gomez ist schlacksig, wie immer, weicht aber manchmal auf die Flügel aus und bereitet zusammen mit Jonas Hector in der zweiten Hälfte das Führungstor vor. Da spielen sie die für unüberwindbar gehaltene italienische Abwehr wunderbar aus und Özil trifft. Das hätte es eigentlich gewesen sein müssen, denn Italien kommt im gesamten Spiel nur zu Halbchancen. Dann rettet ein italienischer Abwehrspieler auf unerklärliche Weise auf der Linie gegen einen Müller-Schuss. Dem klebt das Pech bei diesem Spiel einfach auf dem Stiefel, das setzt sich dann im Elfmeterschießen fort. Den hat Pep Guardiola auf dem Gewissen, weil er ihn im Halbfinale bei Atletico Madrid auf die Bank gesetzt hat. Seitdem ist der Müller nicht mehr der Müller und trifft einfach nicht. Der Müller bräuchte mal einen längeren Urlaub, genau das. Ein anderer, den Guardiola auf dem Gewissen hat, sitzt unbeteiligt über zwei Stunden auf der Bank. Ob dessen Minute nochmals in diesem Turnier schlägt wie vor zwei Jahren die 113. im Endspiel?
Blöder Handelfmeter
Auf jeden Fall bin ich hochgradig überzeugt, dass Italien aus eigenen Kräften nicht mehr zurückgekommen wäre. Doch dann springt Boateng in Handballtowart-Manier in eine Eckballflanke, die vor ihm Chielini leicht abfälscht und verursacht einen überaus unnötigen Handelfmeter. Italien nutzt diese Ausgleichschance, natürlich, denn eine andere haben sie in diesem von der Taktik geprägten Spiel nicht. Es gibt Verlängerung und Elfmeterschießen. Erster Elfer für Italien, drin. Erster für Deutschland, Kroos, souverän. Zweiter Elfer für Italien, auch drin. Müller tritt an – ich weiß es im Voraus – Buffon hält. Dann dieser absurde Elfer Italien, gefühlte fünf Minuten dribbelt der Schütze auf der Stelle und schießt drüber. Für Deutschland schießt – wer eigentlich, wer war da noch? Draxler schießt später, Hummels auch, Boateng ebenfalls und zum Schluss Jonas Hector. Und Kimmich, richtig, aber wer schießt diesen Elfer? Özil trifft den Pfosten, Schweini kann es entscheiden und schießt drüber, Höwedes schießt gar nicht oder schießt er doch? Hier verwirrt sich die Erinnerung, doch nach den ersten fünf Schützen steht es zwei zu zwei im Elfmeterschießen, sage und schreibe 60% der Strafstöße vergeben. Zwei übers Tor, einer neben das Tor, einer an den Pfosten und zwei gehalten. Eine irre Bilanz des Versagens. Und das zwischen Deutschland und Italien. Am Ende hat Deutschland die etwas besseren Nerven oder einfach ein bisschen mehr Glück. Italien bleibt gegen Deutschland in wichtigen Turnieren weiterhin unbezwungen, doch Deutschland zieht ins Halbfinale. Und das völlig verdient.
Überbordende Stimmung
Die Stimmung im Rieger-Park-Stadion kann man sich ja ausmalen. Die Ordner haben alle Mühe, die auf den Tischen tanzenden Fans herunter zu scheuchen und die überbordende Freude im Rahmen zu halten. Ich bin ebenfalls euphorisiert, zum ersten Mal seit Ewigkeiten und greife nach den Zigaretten, die ein Engländer auf dem Tisch vergessen hat. Ja, eine schmauchen nach so einem Spiel, wenn es dann auch noch meine Lieblingsmarke ist, das muss als ehemaliger Raucher mal drin sein. Dadurch bricht die Sucht nicht gleich wieder aus.
Also, Deutschland schlägt Italien, doch das statistisch exakte Ergebnis muss ich schuldig bleiben. War es nun 7:6 oder 8:7 oder wie auch immer? Wurscht, Hauptsache durch und nur Hummels für das Halbfinale gesperrt. Dann spielt halt der Höwedes. Oder vielleicht der Mustafi, was weiß ich, was im Kopf von Meistertrainer Löw vorgeht. Denn das ist nun mal Tatsache. Wenn du gewinnst, hast du alles richtig gemacht.