Wie im richtigen Leben, so auch bei der Eh Emm. Außenseiter mögen vielleicht die Sympathien auf ihrer Seite haben, doch den Erfolg haben die anderen. Flurbereinigung vom Wildwuchs einer wuchernden Eh Emm. Für die großen Teams geht das Turnier jetzt richtig los. Das Achtelfinale ist ein erster Nerventest.
Pogba wie Hoeness '74
In dem schneidet Frankreich nicht so gut ab. In einem nervösen Beginn verursacht Pogba gleich bei seinem ersten Aufenthalt im eigenen Strafraum ein überflüssiges Foul. Wie Weiland Uli Hoeness 1974 im WM-Endspiel, wird mancher älterer Jahrgang seufzend sich erinnern. Elfer, Schuss, Torwart verladen, Führung des Außenseiters. Eigentlich wollte ich mir das Spiel sparen, werde dann dennoch von Fred's Bar angezogen, wo sich ein sichtlich hoffender Ire an seinem Tisch festhält.
Frankreich bleibt nervös und bekommt in der ersten Hälfte nicht besonders viel hin. Die Hoffnungen des Iren wachsen mit jeder ausgeglichen gestalteten Minute und sind während der Pause ziemlich groß, so dass ihm ein fataler Fehler unterläuft: Er geht nicht urinieren.
Wo spielt Coman?
Dann geht’s weiter und Deschamps hat seinen Mannen in der Kabine wohl ordentlich den Kopf gewaschen, denn nun spielt Frankreich den Fußball, den man von der Grande Nation erwarten konnte, schnell, aggressiv, spielstark. Noch hält Irland dagegen. Der Ire schnauft kurz mal auf, Coman, Bayern München? Ich erwidere, scheiß egal jetzt. - Ich will ja nur Konversation machen. - Spar deine Spannung, du wirst sie noch brauchen.
Blasenreizung
Das ist ihm wohl auf die Blase geschlagen und er geht aufs Klo. Logisch, Frankreich schießt den Ausgleich, Griezmann-Kopfball, Tor. Erleichtert von der Toilette zurück, betrübt vom Umschlagen des Schicksals, will sich der Ire am liebsten in den Tisch verbeißen. Es folgen einige Minuten, in denen Irland Frankreich sein Spiel aufzwingt, Volleyball im Mittelfeld ohne Zuhilfenahme der Hände. Dann kombiniert Frankreich die Insulaner-Abwehr aus. Griezmann ist frei durch und trifft. Das Spiel ist gedreht und der Favorit setzt einen drauf, Griezmann ist wieder durch und wird kurz vor dem Strafraum umgemäht. Rote Karte und ein Freistoß, der jedoch folgenlos bleibt. Der Rest des Spiels ist dann ein wenig Wut auf den Schiedsrichter, ein wenig letzte Hoffnung auf einen glücklichen Ausgleich und eine bittere Einsicht. Das war's, aber immerhin Italien geschlagen und erhobenen Hauptes nach Hause. Immerhin nicht aus der EU ausgetreten wie die von der Nachbarinsel.
Leise gegen laut
Ich wechsle über ins Rieger-Park-Stadion und bekomme einen Sitzplatz auf der Haupttribüne. Es ist viel slowakisches Volk da, doch der Mensch an der Fernbedienung stellt deren Nationalhymne auf Stummschaltung. Einige Leute erheben sich und bewegen die Lippen synchron zu den Spielern, doch man hört nichts. Dann folgt die deutsche Hymne, die dritte Strophe des Deutschlandslieds von Heinrich von Fallersleben, übrigens ein patriotisches Gedicht, geschrieben auf der Insel Helgoland, als nach den Napoleonischen Kriegen die neue europäische Ordnung Deutschland eine neue Restauration beschert und welches die Hoffnungen auf ein geeintes und demokratisches Vaterland vertextet. Keine blutrünstige oder feindefressende Drohung, wie etwa die Marseilleise, der Franzosen liebstes Lied. Der Fernbedienungsmensch schaltet laut und die hinteren Reihen erheben sich mit dem Herz auf der Hand und fordern Einigkeit und Recht und Freiheit. Nationalhymne singen ist also seit dem Sommermärchen 2006 salonfähig geworden.
Einseitige Angelegenheit
Übers Spiel ist schnell alles gesagt. Deutschland kreist die Slowakei gleich ein, lässt ihr kaum die Luft zum Atmen und Boateng knallt einen Volleyschuss von der Strafraumgrenze in die Maschen. Gleich darauf holt Gomez gegen Škrtel einen Elfer raus, den Özil jedoch verballert. Man hat jedoch nie den Eindruck, dass dadurch ein Riss im deutschen Spiel entstehen könnte. Sie lassen den Gegner sich müde laufen und schlagen kurz vor der Pause nochmals zu, nachdem auch die Slowakei mal den Weg vors deutsche Tor gefunden hat. Draxler dribbelt sich auf dem linken Flügel gekonnt durch und steckt auf Gomez, der einen Tick vor seinem Schatten am Ball ist und aus Ultrakurzdistanz auch dem Torwart keine Chance lässt.
Reminiszenz ans Sommermärchen
Die Stimmung der deutschen Anhänger ist natürlich prächtig, die der Slowaken mittelprächtig bis untermittelprächtig. In Halbzeit zwei zieht sich der Favorit erst mal ein wenig zurück und testet das Defensivverhalten. Besonders Kimmich liefert sich mit Hamšik ein paar interessante Zweikämpfe. Draxler bleibt es vorbehalten, seine gute Leistung mit einem weiteren schönen Tor zu bekommen und die beiden Protagonisten des Sommermärchens, Poldi und Schweini, bekommen ihre verdiente Viertelstunde zum Zehnjahresgedächtnis an jene Tage im Sommer in Deutschland. Damit ist eigentlich alles von dem Spiel erzählt, souverän gewonnen, ohne Probleme im Viertelfinale und nun endlich einen Großen vor der Nase, Angstgegner Italien oder Titelverteidiger Spanien.
Komischerweise stimmen nach Schlusspfiff übriggebliebene Franzosen ihre Nationalhymne an.
Fest in Schwarz-Gelb-Rot
Halte mich weiter in der Nähe des Rieger-Park-Stadions auf und erscheine pünktlich zum Anpfiff auf meinem angestammten Platz, der tatsächlich leer geblieben ist. Farbenfreudige Belgier sorgen für eine schöne Atmosphäre, einfach schön diese Farbkontraste der belgischen Nationalfarben, das dunkle Schwarz mit dem leuchtenden Gelb und dem warmen Rot. Und wenn man das noch als Perücke auf dem Kopf trägt und als Farben ins Gesicht schmiert, sieht's halt gut aus.
Ein paar Ungarn sind auch da, sie stehen, zusammen, Hand aufs Herz. Ein Frischling, wohl Linkshänder, führt die linke Hand an die rechte Brust, da ist was durcheinander gekommen. Hat er denn auch das Herz am rechten Fleck? Er merkt's aber schnell, schaut sich um und orientiert sich an seinen Kameraden. Belgien macht schnell klar, wer Favorit und wer Außenseiter ist, einem schnellen Führungstor folgen weitere Chancen. Bei jeder liquidierten Torschuss skandieren die Ungarn Kiraly Gabi, die Belgier haben mehr Variationen drauf, eine heißt Kevin de Bruyne und ich höre erstmals in meinem Leben die korrekte flämische Aussprache des Namens. Ungarn versucht es auch mal mit kernigen Fernschüssen und ein paar Angriffen, das lässt auf eine interessante zweite Halbzeit hoffen.
Ich verlasse das tobende Rund und begebe mich in mein Wohnquartier. Meine Spekulation geht auf. In der ersten Viertelstunde der zweiten Hälfte ist nichts passiert, Ungarn sieht zunächst optisch überlegen aus, läuft aber insgesamt noch drei Mal in einen bösen belgischen Konter. Klare Sache, Spieltag abgehakt, das Feld der Außenseiter lichtet sich.