Viel Zeit heute bis zum Anpfiff, denke ich, als mich meine Tochter morgens aufweckt. Da sie den Stecker des Radioweckers herausgezogen hat, kann ich nur ahnen, dass es spätestens 8 Uhr morgens sein muss. Denn dann steht sie in ihrem Kinderbett, hält sich am Gitter fest und schaut erwartungsvoll in meine Richtung. Ich winke ihr zu, sie winkt zurück, ich nehme sie mit ins Bett zum Knuddeln, stehe aber bald schon wieder auf, sie riecht etwas streng, also beginnen wir mit dem üblichen Morgenprogramm: Windel wechseln, Flasche bereiten, füttern, dazwischen selbst noch die notwendigen hygienischen Handhabungen machen. Ich frühstücke und dusche später, wenn das Kind die Veränderungen in seinem Spielzimmer, also in der ganzen Wohnung, inspiziert.
Ein Balkan-Team droht
Das erste Spiel ist Serbien gegen Costa Rica, zunächst möchte ich kneifen, doch dann reizt mich der Vergleich Europa gegen Lateinamerika doch wieder. Im Nebenzimmer lasse ich Gun Club, Las Vegas Story laufen. Das Kind entdeckt die verschiedenen Schalter des Verstärkers , ich muss mehrfach nach der Ursache der plötzlich aussetzenden Musik forschen. Meine Lebensgefährtin (im Folgenden: MM) wechselt von ihrem Bett in mein Bett, das Kind braucht schließlich seinen Mittagsschlaf, und ich kann mich ganz dem Spiel widmen, in dem Torwart Navas, immerhin die Nummer 1 von Real Madrid, einige ganz gute Chancen der Serben zunichte macht.
In der Pause schlafen MM und das Kind bereits tief und fest, ich lege eine Platte von Spaceman 3 auf, Sonic Boom, und genieße den ungestörten Musikgenuss. Interessiert schaue ich nach, wie es denn eigentlich mit dem deutschen Team weitergeht, wenn es nach der Gruppe überhaupt weitergeht. Das könnte tatsächlich Serbien sein, unangenehmer Gegner. Deutschlands Niederlagen gegen Balkan-Teams, eine Geschichte für sich. WM 1994, Viertelfinal-Aus gegen Bulgarien. Vier Jahre später, wieder Viertelfinale, diesmal die Klatsche gegen Kroatien. EM 2000, gerade mal 1:1 gegen Rumänien, 2008 bei der EM eine Niederlage gegen Kroatien in der Gruppe wie auch bei der WM 2010 gegen Serbien.
Serbien 2018 spielt auch gar nicht schlecht, aber die herausgespielten Chancen nutzen sie nicht. Ein unwiderstehlicher Freistoß von Kolarov bringt kurz nach der Pause die Entscheidung. Costa Rica, die Überraschung der letzten WM, gelingt es nicht, im Vorwärts-Modus Entscheidendes zustande zu bringen. Serbien bringt das Spiel locker über die Zeit und im Schlafzimmer ist es noch immer ruhig. Ich springe noch schnell in den Supermarkt an der Ecke und besorge das Nötigste, um mal wieder aus dem, was sich im Kühlschrank findet, ein Essen zusammen zu panschen.
Schon wieder Resteessen
Dann ist Deutschland dran. Nach nicht einmal zwei Minuten hat Mexiko bereits die erste gute Gelegenheit, Boateng blockt im letzten Moment ab. Das Muster ist sehr einfach, zentral auf die Innenverteidiger zulaufen, dann ein Pass nach links heraus in die Tiefe, ab in den Sechzehner, noch ein Haken nach innen und dann den Abschluss suchen. Nach der ersten Aktion ist die Taktik klar. Und sie klappt auch immer wieder, da Deutschland wieder seinen schleppenden Ballbesitzfußball versucht, bei dem dann immer mehr Spieler auf dem immer enger werdenden Raum 30 Meter vor dem gegnerischen Tor versuchen, den Ball zirkulieren zu lassen. Ein Ballverlust und ein langer Ball in das völlig offene deutsche defensive Mittelfeld genügen, dann noch der Pass nach links, wo Kimmich fehlt, und schon bietet sich die nächste vielversprechende Situation.
Deutschland hat auch Chancen, so ist es nicht, Werner ein, zwei Mal, wenn er mal in den freien Raum geschickt wird, eine Flanke von Kimmich, die beinahe in ein Eigentor mündet. Aber nach gut einer halben Stunde ist es so weit, Mexiko spielt einen der häufigen Gegenangriffe endlich mal aus. Mesut Özil eilt zwar zurück, um Kimmichs Loch zu stopfen, doch er lässt sich viel zu leicht austanzen und Neuer, dem sonst nichts vorzuwerfen ist, kann den Schuss ins kurze Eck nicht parieren. Kroos scheitert kurz danach beim Freistoß an Ochoa und der Latte, das war es vor der Pause.
Muntere zweite Halbzeit
In der Zwischenzeit ist auch Leben ins Schlafzimmer gekommen und meine putzmuntere Tochter krabbelt wieder überall herum. Sie strahlt mehr Energie und Spielfreude aus, als die elf deutschen Fußballspieler zusammen. Wenn Kimmich seinen Gegenspieler nur halb so gut im Auge behalten hätte wie ich meine Tochter, wäre das Gegentor nie im Leben gefallen. Aber der Jungsstar vom FC Bayern hat je bereits angekündigt, dass er sich nicht auf Dauer in der rechten Verteidigerposition sieht. Dieses Spiel ist ein hervorragendes Werbevideo für seine Sache, vielleicht erhört ihn der Bundestrainer bereits für das zweite Spiel. Deutschland spielt übrigens auch mit einem linken Verteidiger, einem Spieler von Hertha BSC Berlin mit Namen Plattenhardt, aber das nur der Vollständigkeit halber. Der Spieler tritt in dem Spiel nicht weiter in Erscheinung und ich bin auch nicht sicher, ob ich meiner Tochter diesen langen Namen unbedingt beibringen muss.
Das Kind braucht Futter, also muss MM kochen. Mein Essen übrigens wartet in der Halbzeitpause auf mich. Ich muss es jedoch unterbrechen, denn ich muss meiner Tochter einen Appetizer verabreichen. Sie schaut dann die gesamte zweite Halbzeit mit mir zusammen, zunehmend unruhiger und schlechter gelaunt, am Ende kann ich sie kaum noch vom Computer fernhalten, auf dem ich schaue, als ahne sie bereits, was da auf sie zukommt.
Mannschaft im Halbfinal-Modus
Das Spiel selbst erinnert an eines jener vielen Champions-League Spiele, das Bayern München meist im Halbfinale gegen einen spanischen Spitzenclub verliert. Viel Ballbesitz, es geht immer um den Sechzehnmeterraum herum, niemand findet eine Lücke und die Abschlüsse sind nur selten mal gefährlich. Sind ja auch genügend Spieler vom Münchner Verein dabei, Neuer, Kimmich, Boateng, Hummels, Müller. Bei dieser Spielerei entstehen keine Ideen oder Überaschungsmomente, erst als Nicht-Bayern-Spieler eingewechselt werden, kommt mal etwas Überraschendes, ganz am Ende ein Pfostenschuss von Brandt.
Echtes Aufbäumen sieht anders aus, nämlich so wie bei meiner Tochter, die es längst nicht mehr auf ihrem Fütterhocker hält. Sie will unter allen Umständen auf den Tisch klettern und auf dem Computer eingreifen. Nur mit Mühe kann ich sie zurückhalten. Tut mir echt leid, Töchterchen, denke ich nach dem Spiel, dein erstes WM-Spiel der deutschen Mannschaft hätte ich dir auch anders gewünscht. Am Vortag hat wenigstens ihre Co-Heimat gewonnen und so ist dieses enttäuschende Spiel nur halb so schlimm. Zum Trost füttere ich sie mit Brötchenschnitten mit Butter, trotz des ausdrücklichen Verbots von MM, die sich kurz zum Einkauf von Saft für das Kind verabschiedet hat. Das kann dauern, bin ich fast schon überzeugt. Doch ich werde überrascht, noch während der ersten Hälfte des folgenden Spiels zwischen Brasilien und der Schweiz ist sie zurück - es steht sogar noch 0:0 - und serviert mir die Aufgabe, dem Kind neben dem Fußballspiel Nudelauflauf einzutrichtern. Nach dem Ergebnis des Deutschland-Spiels fragt sie erst gar nicht. Komische Frau.
Brasilien nur Unentschieden
Nun, das Kind futtert so tüchtig, wie die Schweizer Neymar foulen. Das ist nie brutal, stets im Zweikampf und immer wieder von anderen Spielern. Ein Wunder, dass dieser sich weder provozieren noch die Lust verderben lässt. Aber er bleibt ohne Wirkung. Das Tor des Abends erzielt statt seiner Coutinho mit einem schönen Schuss in die äußerste Ecke. Das reicht nur nicht, denn die brasilianische Abwehr vergisst in der zweiten Hälfte einen Eckball zu verteidigen und Zuber köpft locker zum Ausgleich ein. Also auch Top-Favorit Brasilien kann nicht überzeugen, startet aber wenigstens nicht wie Deutschland mit einer Niederlage. Das Kind ist dann auch ganz müde und lässt sich nach dem Abpfiff von MM brav ins Bett legen.