Letzter Gruppenspieltag, viele Entscheidungen sind noch offen. Nach meinem Ausflug in die tschechische Bürokratie, darunter eine Stunde Wartezeit im neuen Rahthaus von Prag 7, als dessen Resultat ich nach wenigen Minuten ein weiteres Formular in die Hand gedrückt bekomme, das ich von meinem Vermieter ausfüllen lassen muss, schaffe ich es geradeso zum Anstoß um 18h nach Hause. Ich entscheide mich für Spanien gegen die Slowakei. Das ist die falsche Entscheidung, denn das Spiel ist herzlich einseitig. Die Slowaken bringen sich mit einer indiskutablen Leistung selbst um die Chance, einen der vier besten dritten Plätze zu ergattern. Eingeleitet wird das Debakel durch ein groteskes Eigentor des slowakischen Torwarts, dessen Namensnennung ich ihm hiermit ersparen möchte. Einige Minuten zuvor hat er noch einen nicht besonders platzierten Elfmeter eines spanischen Stürmers gehalten, dem ich ebenfalls die Namensnennung ersparen möchte, dann wischt er sich einen Ball, der von der Latte nach oben abprallt, ins eigene Netz. Er hätte einfach stehen bleiben können, die Arme öffnen und das Kustleder liebevoll an die Brust drücken. Er entscheidet sich jedoch, dem Ball entgegen zu springen, will den Ball über die Latte wischen, erwischt ihn zu spät und das Unglück ist geschehen. Auch beim zweiten Tor sieht er nicht gut aus, irrt unnötig aus dem Tor heraus Richtung rechte Eckfahne, kann den Ball nicht erreichen und ist bei der folgenden spanischen Flanke zu spät auf der Torlinie zurück.
Spanien überrollt die Slowakei
In der zweiten Hälfte gehen die Slowaken dann so richtig ein, spielerisch leicht trifft Spanien noch drei Mal und lässt in der Schlussviertelstunde austrudeln. Endergebnis: 5:0, die Slowakei ist draußen, Spanien jedoch nur zweiter in der Gruppe. Denn im Parallelspiel schafft Schweden in der Nachspielzeit den Siegtreffer gegen Polen und siegt mit 3:2, zwei Mal Leipzig-Forsberg, auf der Gegenseite zwei Mal Bayern-Lewandowski. Man sieht, die Bundesliga lebt, leider ist damit aber für den Weltfußballer das Turnier zu Ende, Polen wird Gruppenletzter.
Patriotismus siegt über Verstand
Abends stehe ich vor dem Dilemma, welchem Spiel ich den Vorzug gebe, der Wiederholung des EM-Finales vor fünf Jahren oder Deutschland gegen Ungarn. Der Patriotismus siegt schließlich und ich sehe, wie Deutschland wieder Jogi-Löw-Fußball spielt, mit viel Ballbesitz, wenig Tempo und wenigen Ideen. Darüberhinaus sorglos in der Abwehr, Adam Szalai, auch Bundesligaspieler, trifft gleich mit dem ersten Versuch sehenswert per Kopf nach gut zehn Minuten. Mir dämmert gerade, dass Deutschland mit diesem Ergebnis Gruppenletzter wird und aus dem Turnier fliegt. Hummels hat Pech, trifft mit einem Kopfball nur die Latte, Ginter mit einem Schuss aus kruzer Entfernung die Hände von Gulacsi, noch einem Bundesligaspieler. Deutschland versucht es fast ausschließlich über Kimmich auf der rechten Seite, Gosens lässt die Mannschaft links liegen. Als Ergebnis fliegen viele ungenaue Flanken in den Strafraum, insbesondere von Ginter, mit denen die Stürmer nichts anfangen können.
Ungarn spielt italienische Schule
Ungarn hat jetzt einen italienischen Trainer und steht dementsprechend massiv in der Abwehr. In die Pause geht es bei strömendem Regen mit 1:0 für Ungarn, während im Parallelspiel Christano Ronaldo und Karem Benzema die Elfmeterstatistik aufbessern.
Es ist klar, irgendwas muss sich ändern in der zweiten Hälfte, aber Löw lässt Sané auf dem Platz, beordert Kimmich in die Mitte. Sané stellt in einigen Aktionen wieder einmal seine Unberechenbarkeit unter Beweis, leider zum Schaden der eigenen Mannschaft. Er bekommt von mir schon mal den Preis für den schlechtesten Eckball des Turniers, hinzu kommen noch einige völlig kopflose Pässe ins Nichts, ein höchst riskantes Handspiel an der eigenen Strafraumkante, zum Glück zehn Zentimeter außerhalb, ein völlig misslungener Zuspielversuch am Ende des Spiels, als er eigentlich frei auf das Tor zulaufen kann, Himmel, ich weiß nicht, was mit Sané manchmal los ist, da scheint er den Fußballverstand vollkommen verloren zu haben. Ich stelle mir gerade eine Fußballmannschaft mit Sané, Julian Brandt, den Löw zu diesem Turnier gar nicht mitgenommen hat, und Timo Werner vor. Drei Fußballautisten und Inselbegabungen in einem Team, das könnte selbst Thomas Tuchel nicht mehr zu einer akzeptablen Gesamtleistung coachen.
Löw nimmt dem Team die Stärken
In dem Spiel zeigt sich mal wieder der ganze Löw, Vorstopper Ginter soll Flankengott spielen, Sané nach hinten mitarbeiten, Gündogan muss in Kopfballduelle gehen und Toni Kroos schnelle Vorstöße sprinten. Jeden dorthin, wo er die größten Defizite aufweist. Nach etwa einer Stunde zeigt sich Gulacsi gnädig und faustet an einem Ball vorbei, den Hummels per Kopf zu Havertz weiterleitet, der ihn einnetzt. Die Freude üner den Ausgleich währt aber nur dreißig Sekunden, denn die Ungarn gehen prompt wieder in Führung. Löw wechselt aus und ein, was er nur kann, lässt Sané aber immer noch auf dem Platz, dem in diesem Spiel so ziemlich nichts Produktives gelingt.
Goretzka und Musiala sind echte Joker
Müller kommt und organisiert das Spiel neu, Goretzka kommt und sorgt für Torgefahr, Löw bringt tatsächlich Werner, den du in einem Spiel gegen ein Abwehrbollwerk überhaupt nicht gebrauchen kannst. Runter gehen Havertz, direkt nach seinem Tor, Gnabry, der einzige Stürmer mit Köpfchen, Gosens, den die Mitspieler gemieden haben, als hätte er eine ansteckende Krankheit, Gündogan, ein feiner Techniker, der sich auch auf engem Raum durchsetzen kann. Am Ende bringt Löw auch noch Musiala, der mit einer schönen Körpertäuschung den glückliche Ausgleich von Goretzka mit vorbereitet. Danach spielt Deutschland nur noch an der Eckfahne auf Zeit, unternimmt keinen Versuch mehr, das Spiel doch noch zu gewinnen und den Gruppensieg einzufahren. Im Parallelspiel darf Ronaldo noch einen Elfmeter verwandeln und Benzema nochmals ausgleichen, das Spiel endet ebenfalls 2:2. Das bedeutet, dass Deutschland im Achtelfinale im Wembley-Stadion gegen England spielt, was doch ein würdiger Rahmen für den Abschluss von Jogi Löws Bundestrainerkarriere wäre. Frankreich spielt als Gruppensieger übrigens gegen die Schweiz. Portugal trifft auf Belgien, Spanien auf Kroatien, Schweden auf die Ukraine. Potentielle Viertelfinalspiele wären Spanien gegen Frankreich oder Belgien gegen die Niederlande. Das macht Lust auf das Turnier.