Nur zwei Spiele am Tag und schon gewinnt das Turnier an Qualität. Gerechterweise muss ich zugeben, dass bereits Italien gegen Belgien am Vortag das Turnierniveau um mindestens zwei Spannungsstufen angehoben hat, nur eben war der Austragungsort schlecht gewählt. Ein hysterischer Schwede und Ire, dazu noch ein paar apathische Briten und Finnen und Außereuropäer – weiterhin gilt die Erkenntnis von der WM 2006: Kiffen und Fußball passen nicht zusammen – ergab ein unerträgliches Irrenhaus, das ich nie wieder aufsuchen zu wollen mir fest vorgenommen hatte.
Es kam anders, bereits um kurz nach sechs sitze ich wieder auf meinem Barhocker, diesmal in wunderbarer Ruhe. Die Wahnsinnigen vom Vortag waren wohl weggesperrt, die Apathischen zu Hause und ich konnte mich endlich mal auf das Kerngeschäft der Eh Emm konzentrieren, nämlich die Frage, warum 21 Mann in kurzen Hosen und Gabor Kiraly sich um einen einzigen Ball balgen – und drei Leute in Freds Bar dem mit mäßigen Interesse hinterherschauen. Zum Glück verstanden zwei davon den tschechischen Kommentar nicht, so dass mögliche Konversation über die Güte des gesprochenen Wortes per se ausfielen. Sie schienen das Spiel auch eher zu nutzen, um ein kognitives Gleichgewicht auszubalancieren.
Nur die Barfrau war sichtlich nervös, kein Wunder, suchte sie doch handyringend sich selbst auszuwechseln, denn das eigene Kind, so ein zwanzigjähriges blondiertes Gift, bereitete Sorgen. Ich fasse mal in ein paar Stichworten zusammen: Sanitäter, nichts gegessen, Krankenhaus, biologischer Vater ruft an, ausübender Vater anteilnahmslos, schließlich die Selbstbezichtigung, den einzigen vernunftbegabten Mann im Umfeld zwanzig Jahre zuvor mutwillig verlassen zu haben, einhergehend mit der Selbstgeißelung als blöde etwas, dann noch Beschimpfungen des abwesenden Barmanns Martin, der nicht einspringen möchte, weiter geht’s mit einer verschlossenen Tür samt fehlendem Schlüssel und den sich dort befindlichen Lebensersparnissen, wieder ein Anruf mit vergeblicher Ratsuche, schlicht der Stoff für eine siebenundachtzigteilige Seifenoper...
Ein paar Fragen blieben noch offen, ehe die Barbesitzerin eintraf, die Schicht übernahm, ihr Neugeborenes dem Erzeuger ablieferte und den neunjährigen Sohn an dessen Vater, den man wohl eigens zu diesem Zweck aus dem Irrenhaus herausgelassen hatte. Nur, wem diese stellen?
Weiter ging's mit den Problemen mit den neuen Serviererinnen, die einen Hamburger vergessen hatten auszuliefern, Vorsätzen für den Abend und den folgenden Tag, überfällige Reparaturen endlich in Angriff zu nehmen. Es war also wieder mal ganz schön was los im Irrenhaus, an anderer Stelle auch Wracktal genannt. Meine beiden Mitschauer bekamen davon jedoch nichts mit. Ach, selbstgewählte Ignoranz kann so herrlich sein, wenn man nur Englisch versteht.
Auf dem Platz bekommen auch die leicht favorisierten Österreicher ihre Probleme, nämlich die Ungarn, nicht recht in den Griff. Die optische Überlegenheit der ersten Hälfte weicht dem Entsetzen nach einem blitzsauber herausgespielten Gegentor in der zweiten, die im Anschluss der wütenden Gegenwehr Platz macht, die wiederum jedoch in einen überflüssigen Platzverweis mündet. Alaba, Fuchs, Harnik und co. bekommen einfach keinen Zugriff auf das Spiel mehr und die Ungarn kontern den nordwestlichen Nachbarn noch ein Mal entscheidend aus. Das war's dann, Österreich wird sich deutlich steigern müssen, während Ungarn positiv überrascht.
Ich suche nach dem Spiel das Weite, werde aber auf der Suche nach einem fußballkompatiblen Garten nicht fündig. Stattdessen gehe ich in die Kaschemme und setze mich an einen Tisch neben einen Mathematikarbeiten-korrigierenden Lehrer. Das garantiert erhöhte Kontemplation, die selbst eine hysterische Stimme einer Gästin, gelernte Künstlerin, nicht stören kann. Sie watet munter durch etliche Untiefen des böhmischen Lebens, einen Dreh mit dem Pornostar Eva Sedlackova (oder so ähnlich), das Funktionieren des Polizeipräsidiums, die Korruption dortens, irgendwelche veruntreuten Gelder oder Besitztümer. Ich wundere mich, dass es in Zeiten von youporn noch Pornostars geben kann, da schießt Portugal sein Tor. Das deutete sich auch vorher schon an und verführt die mittlerweile dritte am Tisch Platz genommen habende Person zu folgendem Kommentar: Das sieht aus wie wir gestern gegen Spanien. Die ganze Zeit haben wir nur verteidigt. Unterlegt wird der Fußball durch ein interessantes Radioprogramm, in dem zwei, drei gleichmäßige Stimmen interessante Dinge erörtern. Wörter wie Verteidigungsfähigkeit lassen mich aufhorchen, doch dabei geht es gar nicht um die Abwehr Islands, sondern um den Schengen-Raum.
Alles in allem ist es ein gelungener Fußball-Abend in der Kaschemme. Die normalerweise reichlich harsche Barfrau bringt mir in regelmäßigen Abständen mit erstaunlicher Höflichkeit ein neues Nass. Person drei hat nach einer Stunde genug gesehen und verlässt das Geschehen. Nur eine Minuten später gleicht Island aus, ich mache eine emotionale Äußerung, die den weiterhin Mathematik-Arbeiten-korrigierenden Lehrer aufblicken lässt. Noch ist's mir egal, schnaubt er kurz und vertieft sich wieder in Formeln und Kurven. Mir nicht, denn Island lässt durchaus aufblicken, es spielt, was es kann. Das ist spielerisch und balltechnisch den Wasserträgern von Cristiano Ronaldo zwar deutlich unterlegen, jedoch mit System, langen Einwürfen und kantigem Kampfgeist unterfüttert, aufgepeppt mit einer ordentlichen Prise Selbstbewusstseins und dem Mut, jede sich bietende Chance zu nutzen. So bleibt das Spiel bis zum Schluss interessant, das mit Ronaldos Spezialdisziplin abschließt, dem Freistoßschuss aus einer zumindest bemerkenswerten Distanz in die Mauer - und weil's so ineffizient war, gleich doppelt dargeboten.
So, alle Mannschaften sind einmal durch, endlich ist das aufgeblähte Turnier in Fahrt gekommen und ich gehe gleich neben Burundi das bisherige Geschehen zusammenfassen. Als überraschende Ergebnis nehme ich mit nach Hause, dass Deutschland spätestens im Finale gegen Tschechien spielen kann, der weitere Turnierverlauf durch die sich qualifizierenden vier von sechs Dritten zu unübersichtlich ist, um darüber jetzt schon zu spekulieren, Österreich ein viel deutscheres Team hat als Deutschland und recht viele Spieler nach alle Chancen auf die Torjägerkanone besitzen.
Das reicht erst mal, um all die unschönen Begleiterscheinungen der Eh Emm zu vergessen. Prügelnde russische Hooligans, erstochene Polizisten und Quizzfragen-besessene Iren.