Bei einem Erkundungsgang durch die Gassen der Altstadt fiel mein Blick auf ein Metallschild: „Gottesdienst in deutscher Sprache, sonntags 10:30.“ Es ist in der Fassade eines Kirchengebäudes angebracht, das auf drei Seiten von mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern eng umschlossen ist. Der Abstand zwischen Gotteshaus und Häuserfront beträgt auf der Rückseite nur wenige Meter. Ich drückte auf die Klinke zur Eingangstür. Sie war verschlossen. Die Kirche heisst Sankt Martin in der Mauer, eine Name, der zum Standort passt.
Am vergangenen Sonntag ging ich zum Gottesdienst. Ein Mann - es war der Pfarrer - begrüßte die Besucher mit Handschlag vor der Kirchentür. An diesem Tag waren es nur wenige Gläubige. Die Menschen kannten sich, standen noch eine Weile herum und berichteten gegenseitig, wie sie das Osterfest verbracht hatten. Die Stimmung war freundlich und ungezwungen. Als der Organist zu spielen begann, waren gerade mal ein Dutzend Stühle besetzt.
Ich blickte mich um. Die Ausstattung war protestantisch karg. Auf dem Altartisch lag eine aufgeschlagene Bibel, eingerahmt von zwei brennenden Kerzen und einem Strauß lachsfarbener Rosen. „Der schöne Ostertag, ihr Menschen kommt ins Helle“, lautete die erste Strophe eines Kirchenliedes. Die Gesang blieb etwas dünn. Mein Blick wanderte über die weiß gekalkten Wände, die einfachen Glasfenster und die schmalen Rippen des gotischen Holzbalken-Gewölbes zur Decke des Hauptschiffes. Sie ist mit Pflanzen- und Tiermotiven ausgemalt.
Ein Frau in Talar begrüßte die Gäste. Sie heisst Andrea Pfeifer und teilt sich mit ihrem Ehemann Frank Leßmann-Pfeifer die Pfarrstelle. Im Mittelpunkt ihrer Predigt stand der „ungläubige Thomas.“ Einer der Apostel, der an der Auferstehung zweifelt und handgreifliche Beweise verlangt. Er ähnelt mit dieser Haltung vielen Menschen von heute, die sich ebenfalls mit dem Gedanken eines Weiterlebens nach dem Tode schwer tun. Thomas, der Skeptiker, habe letztlich doch noch zum Glauben gefunden, sagt die Pfarrerin und zitiert die Jesus-Worte: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“
Das kinderlose Pfarrerpaar ist im Jahr 2008 in die tschechische Hauptstadt gekommen. Entsandt von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die zahlreiche Auslandsgemeinden unterhält. Die Deutschsprachige Evangelische Gemeinde Prag gibt es seit 1994. Sie hat zur Zeit etwa 140 Mitglieder - Christen unterschiedlicher Nationalitäten und Bekenntnisse, die zeitweise oder dauerhaft in Prag und Umgebung leben und froh sind, dass sie den sonntäglichen Gottesdienst in ihrer Muttersprache feiern können. Auch Touristen zählen zu den Kirchgängern. Zugleich gehört die Gemeinde zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, mit ungefähr 110.000 Mitgliedern die größte evangelische Kirche in Tschechien.
Frank Leßmann-Pfeifer und seine Frau waren zuvor in ostwestfälischen Gemeinden tätig. „Ich wollte gerne ins Ausland“, sagt der 51jährige Theologe, der sein Studium in Bethel, Bern, Heidelberg und Münster absolvierte. Als er und seine Frau erfuhren, dass die Pfarrstelle in Prag neu besetzt werden sollte, haben sie sich beworben. Sie bekamen den Auftrag. „Die Offerte hat uns gereizt“, berichtet er. Denn das bedeute, in einem anderen Kulturkreis und auch in einer anderen Kirchenkultur zu leben und zu wirken. Das Ehepaar bezog eine Pfarrwohnung, die - wie das benachbarte Gemeindehaus - außerhalb des Stadtzentrums liegt. In einem achtwöchigen Sprachkurs machten sich die Eheleute mit der tschechischen Sprache vertraut. Die Schwierigkeit, eine slawische Sprache zu erlernen, bekennt der Pfarrer, „habe ich wirklich unterschätzt.“ Seine Frau komme damit besser zurecht.
Sankt Martin gehört zu den traditionsreichsten Kirchen der Stadt. Sie wurde in den Jahren 1178-1187 im romanischen Stil erbaut. Als ein halbes Jahrhundert später eine neue Stadtmauer entstand, wurde die Kirche im gotischen Stil so umgebaut, dass ein Teil des Mauerwerks direkt an die Stadtbefestigung anschloss. Fortan nannte man sie „Sankt Martin in der Mauer.“
Die Pfarrer der Martinskirche schlossen sich früh der Erneuerungsbewegung an, die - noch vor Luther - zur tschechischen Reformation führte. 1414 wurde hier in Prag nach einigen hundert Jahren wieder das Abendmahl in beiderlei Gestalt gefeiert - mit Brot und Wein für alle Teilnehmer. Der goldene Kelch und die Bibel an der Stirnseite der Kirche symbolisieren zwei Handlungen, die in diesem Raum von den Hussitenzeiten bis zur Gegenwart zelebriert werden: Es wird Gottes Wort gepredigt und man feiert gemeinsam das Abendmahl - Kleriker und Laien, Wohlhabende und Arme. Denn, so der Grundgedanke der Hussitischen Reformer, vor Gott sind alle gleich.
1784 erlitt die Kirche das Schicksal anderer Prager Gotteshäuser. Sie wurde geschlossen. Das Gebäude diente danach als Lagerraum, als Wohnungs- und Geschäftshaus und sogar als Kneipe, zu der auch ein Tanzsaal gehörte. Im Zuge der Altstadt-Sanierung um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert kaufte die Stadt die Kirche und ließ sie rekonstruieren. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie langfristig an die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder verpachtet. Die Gemeinde ist bis heute nur Gast und zahlt Miete. Sie finanziert sich aus Zuwendungen der EKD, aus freiwilligen Mitgliedsbeiträgen, Spenden und der sonntäglichen Kollekte.
„Ökumene ist bei uns Alltag“, sagt Frank Leßmann-Pfeifer. Mit der Deutschsprachigen katholischen Gemeinde, die in der Kirche Sankt Johannes Nepomuk am Felsen zusammenkommt, gibt es enge Kontakte. Beide Gemeinden widmen sich besonders der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. An der deutschen Schule erteilen der evangelische Pfarrer und sein katholischer Amtsbruder Religionsunterricht. „Wir haben ein sehr reges Gemeindeleben“, sagt Frank Leßmann-Pfeifer. Gibt es keine Probleme?, möchte ich wissen. Doch, sagt er, die aktiven Mitglieder der Gemeinde, die wegen ihres Berufes nur auf Zeit in Prag seien, wechselten häufig. „Ich kann nicht langfristig planen.“
geschrieben am 14. April 2015