Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

Im Internet: www.prager-literaturhaus.comwww.prager-literaturhaus.com

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| Peter Pragal | Rubrik: Reise | 7.4.2015

Leppin, die Stadt und ihre Touristen

Prager Tagebuch (2)

„Prag hat historische Denkmäler, kleine geschichtliche Pikanterien, tragische Reminiszenzen. Aber es hat keinen Fremdenverkehr. Der Geschmack des reisenden Ausländers findet in dieser Stadt nicht seine Befriedigung.“ Geschrieben hat dies der deutsch-böhmische Schriftsteller Paul Leppin. Ich habe die Sätze im „Immerwährenden Literatur Kalender Prag“ des Vitales Verlages gefunden. Leppin, der am 27. November 1878 geboren wurde und im Alter von 67 Jahren gestorben ist, galt als der letzte Troubadour des alten Prag. Vom konservativen Establishment als „Schundliterat" gescholten, widmete er sich vor allem den Außenseitern der Gesellschaft. Am 10. April jährt sich sein Todestag zum 70. Mal.

Wäre Paul Leppin noch am Leben, würden ihm vor Staunen die Augen übergehen. Seine Bemerkungen über den Fremdenverkehr müsste er wohl überdenken. Prag wird - besonders an Feiertagen wie Ostern - von Touristen geradezu überlaufen. Dann wälzt sich durch die engen Gassen der Altstadt und der Kleinseite ein nicht abreißender Strom von Menschen. Deutsche und Italiener, US-Amerikaner und Russen, Engländer und Spanier. Einzeln oder in Gruppen. Auch viele Asiaten und Südamerikaner. Mit Stadtplänen in der Hand, das Foto-Handy oder die Kamera stets griffbereit. Im Schnitt - so lese ich in in meinem Stadtführer - zählt die Prager Innenstadt tagtäglich rund 38.000 Besucher aus aller Welt. Das ist mehr, als das historische Zentrum noch Einwohner hat.

Als ich am Nationaltheater in die Straßenbahn der Linie 22 steigen will, habe ich Mühe, noch einen Stehplatz zu ergattern. Die Tram, die zur Prager Burg hinaufführt, ist hoffnungslos überfüllt. An manchen Stationen ist zusteigen nicht mehr möglich. Ein Stimmengewirr unterschiedlichster Nationalitäten übertönt die Fahrgeräusche der Bahn. An der Haltestelle auf der Höhe zwischen Königsgarten und ehemaliger Reitschule verlassen fast alle Passagiere die Bahn und streben, den St.-Veits-Dom vor Augen, zum flächenmäßig größten Burgareal der Welt, dicht bebaut mit kulturhistorischen Gebäuden und Denkmalen. 

Am Eingang zum zweiten Burghof gibt es den ersten Stau. Die schaulustige Menge wartet auf die Ablösung der Burgwache. Amateur-Fotografen kämpfen um die günstigsten Standplätze. Mit kräftigen Stiefeltritten nähern sich die Uniformierten. Im Arm Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett. Nach einem zackigen Ritual dürfen die beiden Kameraden, die eine Stunde in stocksteifer Pose ausgeharrt haben, abmarschieren. Ihre Vorgänger wachten einst in gewöhnlichen khakifarbenen Uniformen. Jetzt tragen sie ein mit Kordeln verziertes schickes, gutgeschnittenes Blau, das der Kostüm-Ausstatter des Forman-Films „Amadeus“ entworfen hat.

Im inneren Hof wird es schwer, sich einen Weg zu bahnen. Die Warteschlange der Menschen, die in den Dom wollen, reicht bis zur Rückseite des Gotteshauses. Ich bin kein Tourist, denke ich. Ich habe Zeit. In den gut drei Wochen, der noch vor mir liegen, gibt es sicher günstigere Besichtigungstage. Ich genieße den Panorama-Blick und gehe die Gassen hinab zur Karlsbrücke. Ich habe sie bei früheren Besuchen schon mehrmals überquert. Aber so voll wie an diesem Ostertag habe ich noch nie erlebt. Wer nicht an diesem Ort war, war nicht in Prag, sagt man. Porträtmaler, Souvenirverkäufer und Musikanten buhlen um Aufmerksamkeit. Hier die Jazz-Musiker der „bridge band“, von denen einige wohl schon das Rentenalter erreicht haben, dort ein tänzelnder Sologeiger. Ein paar Meter weiter intoniert, begleitet von Musik aus einem Kassettenrecorder, mit hingebungsvoller Stimme eine Sängern „Ave Maria.“

Wenn die Fremden nach Prag kommen, schreibt Leppin, „wandern sie missmutig in den mürrischen Straßen umher, schimpfen auf die Langeweile, die ihnen über den Weg läuft, und fahren am anderen Tag wieder weiter nach Berlin, wo es so ein fabelhaftes Nachtleben gibt, oder nach Wien, wo es fidel ist, oder nach München, wo man für sein Geld wenigstens einen ordentlichen Batzen Kunst zu sehen bekommt.“
Auch diese Beschreibung trifft auf die heutigen Touristen kaum zu. Sie bevölkern nicht nur Bierkneipen und Restaurants, sondern auch die Museen. Sie gehen in Konzert- und Opernhäuser und shoppen in Konsumtempeln. Und auch die Ostermärkte an den verschiedenen Stellen der Stadt litten trotz der launischen Witterung nicht unter mangelndem Zuspruch. Rund 7,3 Millionen ausländische Gäste besuchen Tschechien jährlich, steht in der neuesten Auflage meines Prag-Führers. Rund zwei Drittel von ihnen reisten direkt nach Prag. „Und es werden immer mehr“, verkündete stolz eine Tschechin, die eine Gruppe deutscher Touristen über den Wenzelsplatz führte.

Geschrieben am 6. April 2015

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