Das magische Prag, an dem sich die Touristen berauschen (oder früher berauschten, als sie noch der Magie wegen herkamen und nicht weil man sich billig besaufen kann), lässt die Einheimischen vermutlich bloß die Augen verdrehen: Schon wieder dieser Schmonzes. Das Magische - was soll das denn sein? Was geht es den Straßenbahnfahrer aus Smíchov an, die Zahnärztin aus Strasnice? Das zieht ihnen genauso am Arsch vorbei wie die Berliner Eckkneipe der Verkäuferin aus Neukölln. Die Berliner Luft, die der Tourist überall erschnüffelt, die Berliner Alleen, die Berliner Schnauze, die erst nach Mitternacht öffnenden Clubs, alles wahr und unwahr zugleich.
Susan fällt mir ein, die Theateragentin, deren Adresse ich mir im Verlag hatte geben lassen, ihr Büro lag tatsächlich an der Fifth Avenue, die ich am ersten Tag dort im Morgengrauen vom Washington Square bis zum Central Park hoch gewandert bin, meine Beschämung, als ich im Glück, endlich da zu sein und alles so gefunden zu haben, wie es meiner Vorstellung entsprach, mit Blick durch ihr Fenster im 23. Stock meiner Begeisterung freien Lauf ließ und plötzlich ihre Miene bemerkte, den angewiderten Zug um ihren Mund, ehe es aus ihr heraus platzte: Dieser ganze NY-Hype, dieser elende Quatsch, dieses ganze dumme Getue, alles Selbstbeweihräucherung, Lüge, Erfindung, weil die Wirklichkeit ohne sie nicht zu ertragen wäre.
Keine Minute bliebe sie in diesem Moloch, schrie sie mich fast an, wenn sie hier nicht ihre Arbeit hätte.
Peter Demetz, mein Zeuge und Gewährsmann, erinnert an Musil, der behauptete, in Prag weigere sich das wahre Genie zu arbeiten. Da das deutschsprachige Prag (das Musil im Visier hatte) eine zu kleine und zu eng organisierte Welt darstellte, als dass genügend frische Luft für alle zur Verfügung stand, will D. die Bemerkung nicht als töricht abtun, denn es stimme ja. Sobald eine Gruppe von jungen begabten Leuten sich genauer umzusehen begann, habe sie auch schon beschlossen, woanders hinzugehen - "an einen Ort, der vielleicht weniger magisch war, wo es aber mehr Verleger, Zeitungen und stimulierend widersprüchliche Meinungen gab".
Abends im Slavia, um das ich bis jetzt, wie um das Savoy und das Louvre, einen Bogen gemacht habe, mit H. verabredet.
Da ich zu früh bin, warte ich neben der Garderobe. Es ist so voll, dass ich am liebsten wieder gehen würde. Ein weißhaariger Mann in schwarzem Anzug, weißem Hemd, weißer Fliege, der auf lächerliche Weise dem kleinen polnischen Parteivorsitzenden ähnlich sieht, dem überlebenden Zwilling, steht in einer Ecke und mustert mich, als kennten wir uns. Kaum schaue ich zu ihm hin, schaut er weg, aber wenn ich den Kopf wende, blickt er mich wieder an, so dass ich ihn schon ansprechen will, als er nach einem tiefen Seufzer den Platz verlässt und an den Tischen vorbei zu einem Flügel geht, der am Ende der rechten Tischreihe steht, er nimmt Platz und beginnt zu spielen: Barmusik, Improvisationen. Schaue, fasziniert von der Ähnlichkeit, immer wieder zu ihm hin.
H., der kurz danach kommt (eine Plastiktüte in der Hand, in der seine Einkäufe stecken), macht dieselbe Beobachtung und stellt die These auf, dass es sich bei den Kaczynskis nicht um Zwillinge, sondern um Drillinge gehandelt habe. Oder dass der Abgestürzte gar nicht abgestürzt sei, sondern sich, der Politik überdrüssig, anstatt das Flugzeug nach Smolensk zu besteigen, nach Tschechien abgesetzt hat, um hier seiner wahren Berufung nachzugehen.
Später C., der ehemalige Botschafter, der zu Beginn der Neunziger sein Land in Berlin vertreten hat - er kennt oder kannte so viele Leute, die ich auch kenne (oder kannte), dass wir im Nu im Gespräch sind. Seine etwas inquisitorische Frage, warum ich nicht schon früher in Prag gewesen sei. Also nicht erst vor zwei Jahren, sondern, in den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern - vor der Wende. Tja, warum? War ja da, will ich antworten, aber das stimmt natürlich nicht.