Der Autor

Gert Loschütz wurde als "der David Lynch unter Deutschlands Romanautoren" bezeichnet, viele seiner Texte thematisieren das Unheimliche. Er wird aus seinem hoch geschätzten Roman Dunkle Gesellschaft lesen, für den er 2005 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt wurde. Er ist auch Verfasser von zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Fernsehspielen.

Gert Loschütz wurde 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt) geboren, 1957 übersiedelte die Familie nach Hessen. 1968 wurde er zur Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Dobříš eingeladen, die jedoch wegen des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes nicht stattfinden konnte. Gert Loschütz lebt in Berlin.

​Im November 2016 ist er Stipendiat des Prager Literaturhauses.

 

 

Bildnachweis:
Björn Steinz

Blog

| Gert Loschütz | 16.11.2016

15. November 2016, nach Olomouc und Lostice

11.

Mit dem Pendolino, dem Gegenstück zum Sprinter, nach Olomouc, wo H. ein Auto mieten wird, mit dem wir nach Lostice fahren.

         Am Bahnhof das ungewohnte Ritual des Zugerwartens: Da im Fahrplan nicht festgelegt ist, wo die Züge ankommen, warten die Reisenden in der Halle vor der großen Anzeigetafel darauf, dass der Bahnsteig bekannt gegeben wird. Sie stehen neben ihren Koffern und Taschen und starren zur Tafel hinauf, und wenn neben Zugnummer und Abfahrtszeit das Gleis aufleuchtet, nehmen sie ihr Gepäck und eilen in die Unterführung hinein, von der die Treppen zu den Bahnsteigen hinaufführen …

         Das Land, durch das der Zug rollt, ist weiß vom Raureif, die Bäume, die Sträucher, die Wiesen, die abgeernteten und im Herbst umgegrabenen Äcker, die Haus- und Lagerhallendächer, die Straßen und die Straßeneinfassungen, die eisernen Brückengeländer, die Zäune, die Drähte, die einsam an einem Hang stehenden Schuppen, die Bänke neben den Pestsäulen und Herkules-Brunnen, weiß alles oder halbweiß, weiß mit Graueinsprengseln, in den Senken steht noch ein Nebelrest, der sich erst gegen Mittag verflüchtigt, zur Zeit unserer Ankunft in Olomouc …

 

Lostice/Loschitz

Auf den kleinen, mit dem Handy geschossenen Fotos ist das Himmelsgrau nicht vom Straßengrau zu unterscheiden, die ein-, höchstens zweistöckigen, nah an der Straße stehenden Häuser heben sich, als wollten sie im Landschaftsgrau verschwinden, nur wenig vom Hintergrund ab. Der Fassadenschmuck, wenn es ihn gab, wurde abgeschlagen, nur an den Häusern am unverhältnismäßig großen Marktplatz mit dem Brunnen und der Dreifaltigkeitssäule zwischen den knorrigen Bäumen auf der grünen Mittelinsel ist der Stuck hier und da erhalten geblieben ...

Herr S., der Mann, mit dem wir verabredet sind - sein Englisch klingt holpriger als meins, dafür verfügt er über einen Wortschatz, der es ihm erlaubt, in langen Sätzen zu sprechen, ohne wie ich ständig nach Vokabeln zu suchen. Auf dem Weg zur Synagoge in der Ztracená, die nur ein paar Minuten vom nam. Miru, dem Friedensplatz, entfernt liegt, erklärt er, wer in den Häusern, an denen wir vorbeikommen, wohnte. Es sieht aus, als sei zumindest der zur Synagoge hin gelegene Teil des Städtchens fast ausschließlich jüdisch gewesen, da wohnte der Gemeindevorsteher, da der Kantor, da dieser, da jener, er hat alle Namen parat, und in allen Häusern wurde Tvaruzky hergestellt, der aus Frischmilch zubereitete Käse, zwanzig jüdische Familien waren zeitweise mit seiner Herstellung beschäftigt.

         Es ist der alte Judenortsteil, durch den wir nun, schon fast im Dunkeln, gehen, Loštice židovská obec, das nach Jahrhunderte langem problemlosen Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden im frühen 18. Jahrhundert auf kaiserlichen Erlass hin eingerichtete Ghetto. Die an einen Acker grenzende Synagoge ist ein würfelförmiger Bau, der größer ist als die in der Nachbarschaft liegenden Häuser, die ebenfalls jüdische Besitzer hatten. Es ist die dritte Synagoge, die in Lostice errichtet wurde. Die erste wurde bereits Mitte des 16. Jahrhunderts gebaut, aus Holz, und im Dreißigjährigen Krieg zerstört; die zweite von 1651, ebenfalls ein Holzbau, fiel zusammen mit einem Großteil der Häuser im Judenviertel einem Feuer zum Opfer; die dritte endlich, 1806 aus Stein errichtet, in der bis zu ihrer Schließung durch die deutschen Besatzer Gottesdienste abgehalten wurden, überstand die Zeiten, freilich nicht als Synagoge, sondern lediglich als Gebäude, da mit den Menschen seine eigentliche Bestimmung verloren gegangen ist. Von den 59 im Juni 1942 nach Theresienstadt deportierten Juden kehrten nach Kriegsende nur zwei nach Lostice zurück.

         Ein Teil der von den Nazis beschlagnahmten Ritualgegenstände befindet sich heute im Jüdischen Museen in Prag; die Torarolle, die gerettet wurde, gelangte 1939 in die USA und wurde bei der jüdischen Gemeinde in Glencoe, Illinois, aufbewahrt. Als der Rabbiner von Glencoe im Jahr 2005 zu Besuch nach Lostice kam, brachte er sie mit. Nach der gründlichen Renovierung des Gebäudes und seiner Wiedereröffnung als Museum und Bildungsstätte, ruht sie in einem kleinen, in einer Wandnische am Kopfende des großen Gebetsraums aufgestellten Schrank, auf den die Besucher, wenn sie auf den Bänken Platz genommen haben, schauen.

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