Im August 2018 zog ein aufgebrachter Mob durch die Straßen von Chemnitz und griff scheinbar wahllos Ausländer und Menschen an, die ihrer Meinung nach nicht nach Deutschland gehörten. Solche Übergriffe kommen seit der Wiedervereinigung immer häufiger vor. Die Berliner Politik reagierte auch dieses Mal, wie sonst auch, mit Beschwichtigung. Als dann aber im September der frisch ernannte Bundesinnenminister Horst Seehofer nicht das Problem bei den Angreifern, sondern den Opfern sah und die „Migration zur Mutter aller Probleme“ erklärte, war für den Hamburger NDR-Journalisten Michel Abdollahi eine rote Linie überschritten. Er formulierte einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin, der nach der üblichen Anrede mit den Worten begann „ich bin in großer Sorge um das Land und die Bevölkerung“ und stellte ihn auf seine Facebook-Seite, später auf die offene Petitionsplattform change.org ein. (prag aktuell berichtete) In dem 6 1/4-Seiten langen Brief beschrieb er in emotionalen Worten die Geschichte der seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Deutschland eingewanderten Menschen, ihren Kindern und Kindeskindern, die Deutschland mit wiederaufgebaut haben und nun seiner Ansicht nach vom Bundesinnenminister pauschal als „Mutter aller Probleme“ verurteilt wurden. Der Brief wurde über 40.000 Mal von Unterstützern unterzeichnet und fand auch im europäischen Ausland mediale Beachtung. Seitdem hat sich rechtsmotivierte Gewalt gegen Ausländer und Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ in Deutschland nicht nur mehrfach wiederholt, sondern auch gegen diejenigen gerichtet, die bislang darauf vertrauen konnten, „dazuzugehören“, wie im Fall Walter Lübckes. Jetzt hat Michel Abdollahi seine Erfahrungen der letzten 34 Jahre in einem Buch zusammengefasst, dessen Titel als Gegenantwort auf die provokanten Thesen des SPD-Politikers und ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ zu verstehen sind.
Um was geht es in dem Buch?
Abdollahis Buch lässt sich neben dem Vorwort grob in zwei Teile gliedern, die stellvertretend für zwei empfundene Lebensabschnitte stehen. Der erste Abschnitt behandelt die Jahre von seiner Ankunft in Deutschland 1986 bis 2014 und wird unter der Überschrift „Die alte Ordnung“ subsummiert. Der zweite Abschnitt zeigt die gesellschaftspolitische Entwicklung Deutschlands, unter Verarbeitung zahlreicher persönlicher Erfahrungen, von 2015 bis 2019. Überhaupt ist Abdollahis Buch ein ganz persönliches Buch. Mögen die ersten Kindheitserinnerungen an ein missglücktes Ostereiersuchen noch amüsant erscheinen, hinterlässt der politische Entwicklungsbericht Deutschlands, den Abdollahi über einen Zeitraum von 28 Jahren aufzeigt, ein beklemmendes Deja-Vu-Erlebnis beim Leser. Während in den 80er Jahren „ein Nazi ein Nazi“ gewesen sei, wie Abdollahi schreibt, sei er heute „ein Bürger, der zufällig mit der AfD“ marschiere. Während Abdollahi versucht, die Gründe für diese Entwicklung zu verstehen, denn Angst führe oft zu Frustration und diese zu einer „Fehlkommunikation, die schließlich in einer beidseitig wahrgenommenen Ausgrenzung“ gipfele, geht er auch dem Mechanismus der strukturellen Ausgrenzung sowie dem von ihm diagnostizierten zunehmenden „Rechtsdrall“ der bundesdeutschen Gesellschaft nach. Den Dammbruch stellt für ihn Thilo Sarrazins umstrittene Schrift „Deutschland schafft sich ab“ dar und antwortet darauf mit „Deutschland schafft mich“.
Geschickt verknüpft Abdollahi den eigenen Lebensweg mit sowohl weltpolitischen als auch regionalen Ereignissen; angefangen vom Ersten Golfkrieg, über 9/11 bis zu dem „Flüchtlingsjahr“ 2015, ab dem Abdollahi in Deutschland eine zunehmende Enthemmung und Stigmatisierung sowohl gegenüber den gerade eingetroffenen Flüchtlingen als auch der zweiten, dritten und weiteren Generationen von Einwanderern konstatiert. Plötzlich gehören für bestimmte Menschen weite Teile der Gesellschaft nicht mehr zu „den Deutschen“. An vorderster Front stehen dabei Einwanderer und deren Kinder mit muslimischem Glaubensbekenntnis, stellt Abdollahi fest. Doch Opfer von rassistisch bedingter Ausgrenzung und körperlichen Übergriffen bis hin zu Tötungsdelikten können auch Migranten jeder Herkunft und Religion und nicht zuletzt auch „die Deutschen“ sein, die vermeintlich schon immer in Deutschland gelebt haben, wenn sie eine Haltung einnehmen, die der Neuen Rechten widerstrebt. Nach Abdollahis Aufzählung der Ereignisse von Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Lichtenhagen der 90er Jahre, 10 Jahren NSU-Morden nach der Jahrtausendwende, dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße, dem falschen Flüchtling Franco A. und dessen Todesliste, den Hetzjagden von Chemnitz, dem Anschlag von Halle, der Ermordung Walter Lübckes und dem Aufstieg der Neuen Rechten, zu der Abdollahi auch und gerade die AfD zählt, drängt sich dem Leser der Vergleich mit dem bekannten Niemöller-Zitat förmlich auf, der heute umgetextet lauten könnte: „Als die Nazis die Migranten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Migrant“ und nach weiteren Aufzählungen: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ So sieht es Abdollahi geradezu als Bürgerpflicht im Dienste der Demokratie, „sich gegen diese Leute zu wehren“, um ein bekanntes Schulz-Zitat hinzuzuziehen.
Mittlerweile hat der Anschlag von Hanau Abdollahis Buch und seine düsteren Befürchtungen überholt. 10 weitere Menschen (sowie der Attentäter selbst) sind tot. Dabei trägt nach Abdollahis Ansicht nicht nur die Neue Rechte Schuld an einem zunehmend vergifteten Klima in Deutschland, sondern auch die bisherigen Volksparteien, allen voran CDU/CSU und SPD, die mal beschwichtigen, mal ignorieren, um dann selbst am rechten Rand mit Aussagen wie „Die Migration ist die Mutter aller Probleme“ auf Stimmenfang zu gehen, denn „rechts von der CSU“ darf es bekanntlich keine (demokratisch legitimierte) Partei geben, wie Abdollahi den Leser an eine frühere Strauß-Doktrin erinnert. Doch neben der Berliner Regierung attestiert Abdollahi auch den Medien ein Systemversagen in ihrer Rolle als Vierte Säule der Demokratie, wenn sie der AfD dort unnötig Aufmerksamkeit und damit Sendezeit schenken, wo ihren Vertretern im wahrsten Sinne des Wortes auch noch eine Bühne geboten wird, nämlich in den Talk-Shows. Das Medium Internet wird hier von Abdollahi nicht als „Schuldigen“ benannt, wohl aber als technischer Katalysator eines langwierigen rechtslastigen Gesellschaftsprozesses, der Medienanstalten immer härter um Einschaltquoten kämpfen lässt, während Youtuber spielend leicht ein Millionenpublikum erreichen.
Keine empirische Studie, wohl aber ein lesenswerter Erfahrungsbericht
Michel Abdollahis Buch ist ein emotionaler Erfahrungsbericht über eine erschreckende, wenngleich auch nicht unvorhersehbare, Entwicklung aus den Augen eines von Ausgrenzung Betroffenen. Es ist keine soziologisch-wissenschaftliche Analyse, keine empirische Studie. Adornos kürzlich posthum erschienenes Vorlesungsskript „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (2019) aus dem Jahr 1967 (!), erweist sich da als besserer Ratgeber. Doch Abdollahis Buch zeigt Lücken und blinde Flecken im System auf, wo früher, wesentlich früher, hätte gehandelt werden müssen. Nach jedem faschistisch motivierten Anschlag gibt es zwar einen kurzen Aufschrei, der dann aber wieder schnell abebbt, während ein Anschlag von muslimischen Extremisten, sei er noch so lange her, sich unauslöschlich ins kollektive Bewusstsein einer Bevölkerung brennt, die allabendlich genau dieses Bild hier und dort, in der Lokalpresse wie auch im überregionalen Fernsehen, wiederholt vermittelt und so das Gefühl bestätigt bekommt, dass Migranten eine Bedrohung ihrer Integrität darstellten. Vom Attentat eines Christen auf Muslime in Christchurch redet eben keiner mehr.
Was dem Buch zwar nicht fehlt, weil nicht vorgesehen, aber wohl in einer weiteren Publikation Berücksichtigung finden könnte, wäre einerseits eine Auseinandersetzung mit den Alltagserfahrungen zwischen Migranten und den Leuten, die sich zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft zählen, als auch weiteren Erfahrungsberichten anderer Menschen, die ähnliche Erfahrungen wie Abdollahi in Deutschland machten. Denn die zweite und dritte Generation hat mittlerweile Abitur und Studium abgeschlossen, und kann somit adäquat auf zahlreiche offene Fragen Antwort geben. Nur hat sie bislang niemand gefragt.
Prag, 20.07.2020
Konstantin Kountouroyanis
Michel Abdollahi: „Deutschland schafft mich - Als ich erfuhr, dass ich doch kein Deutscher bin“, Februar 2020