Im Herbst 2018 fand im Österreichischen Kulturforum und an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag die internationale literaturwissenschaftliche Konferenz „PRAG IM | FEUILLETON | IN PRAG“ statt. Organisiert wurde die dreitägige Veranstaltung von Prof. Dr. Irina Wutsdorff und Ulrike Mascher, M.A. von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in Kooperation mit Prof. Dr. Manfred Weinberg und Dr. Štěpán Zbytovský von der Kurt Krolop-Forschungsstelle der Karls-Universität Prag. Neben dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds waren auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Österreichische Kulturforum sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft Förderer des Projektes.
Gegenstand der Vorträge und Diskussionen, zu dem auch die interessierte Öffentlichkeit eingeladen wurde, waren neueste Forschungsergebnisse zum Feuilleton-Schaffen im pluri-kulturellen Prag der Jahrhundertwende und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Zeitungslandschaft im Prag der 20er Jahre war eine völlig andere, als sie heutige Leser kennen. Neben dem Prager Tagblatt, dem Max Brod mit seinem gleichnamigen Roman einer Redaktion ein Denkmal setzte, konnten deutschsprachige Rezipienten außerdem noch unter der Deutschen Zeitung Bohemia, der Prager Presse und dem Prager Abendblatt wählen. „Der Bezug wenigstens eines Blattes war gesellschaftliche Verpflichtung der gebildeten deutschen Oberschicht in den Regionen und unumgänglich für Politiker, Unternehmer oder Kulturakteure,“ schreiben Prof. Dr. Steffen Höhne und Doc. PhDr. Barbara Köpplová im jüngst erschienenem „Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder“ (Verlag: J. B. Metzler, 2017).
Max Brod: „Prager Tagblatt – Roman einer Redaktion“
Manfred Weinberg und Irina Wutsdorff hielten die Eröffnungsreden zu dem dreitägigen Workshop, der mit insgesamt 9 thematisch unterschiedlich gelagerten Vortragsblöcken stattfand. Während der erste Block mit dem Titel „Neruda als Feuilletonist“ von Prof. PhDr. Dalibor Tureček, DSc. (Universität České Budjěvovice) und Dr. Nora Schmidt (Universität Erfurt) mit zwei Vorträgen eingeleitet wurde, eröffnete Manfred Weinberg den zweiten Block: „Aus den Redaktionen“ mit einem Vortrag über Max Brods 1957 erschienenem Roman „Rebellische Herzen“, der 1968 unter dem Titel „Prager Tagblatt – Roman einer Redaktion“ erneut aufgelegt wurde. Darin blicke Brod auf seine von 1924 bis 1939 währende Arbeit in der, so Weinberg, bedeutendsten deutschsprachigen Zeitung der Ersten Tschechoslowakischen Republik zurück. Weinberg fokussierte seinen Vortrag auf die Lektüre dieses Romans im Kontext der Grundfragen des Workshops hinsichtlich der Austausch- und Abgrenzungsprozesse der tschechischen und deutschen Kultur und den dem Feuilleton in der Moderne eigenen Modus der Selbstreflexivität.
Nach weiteren Vorträgen von Frau Prof. Dr. Sibylle Schönborn (Universität Düsseldorf) zum „Cultural mapping“ in der Literaturkritik im Feuilleton der Prager Presse und Frau Dr. Marie Odile Thirouin (Universität Lyon) über Themen und Sprecher im Feuilleton der Gazette de Prague (1920-1926) folgte ein Abendvortrag zur Gattungspoetologie des Feuilletons von Frau Assoz. Prof. Mag. Dr. phil. Hildegard Kernmayer (Universität Graz) unter dem Titel „Das Feuilleton und die Stadt. Zur feuilletonistischen – Poetik des Urbanen.“
Kulturvermittler als Feuilletonisten
Das Eröffnungsreferat zum dritten Vortragsblock mit dem Titel „Zweisprachige Feuilletonisten und Autoren“ hielt Štěpán Zbytovský über Paul Leppin im Feuilleton der deutsch- und tschechischsprachigen Presse. Paul Leppin, der häufig auch als „König der Prager Bohème“ betitelt wurde, wird nicht selten zu den kulturvermittelnden Autoren gerechnet. Seine Kritiken und Essays über die deutsche, deutschböhmische und tschechische Literatur erschienen sowohl in tschechisch- als auch in deutschsprachigen Periodika und profilierten Leppin – so Zbytovský – nicht nur als einen Zeugen der Prager Bohème, sondern auch als engagierten Kritiker der Nationalismen.
Mit einem Vortrag von Prof. Dr. Marek Nekula (Universität Regensburg) über das „Prag in Paul/Eisners Essays und Feuilletons“ wurde der Vortragsblock geschlossen. In seiner umfassenden Darstellung der mannigfaltigen Modellierung Prags bei dem Übersetzer und Kulturvermittler par excellence Eisner zeigte Nekula, auf welchem Weg die berühmte Parole des „dreifaches Ghettos“ auskristallisiert wurde.
Prag als ein von Individuen und Kollektiven bewohnter Stadt-Raum
Den vierten Vortragsblock („Prag als Stadt im Feuilleton“) beging Ulrike Mascher (Universität Tübingen) mit ihrem Vortrag über den Gründungstag der Tschechoslowakei (28. Oktober 1918) unter dem Titel „Die neue Hauptstadt bei Richard Weiner und F.C. Weiskopf“. Die Stadt, als ein von Individuen und Kollektiven bewohnter Raum, sei immer schon eine sozial und kulturell bestimmte Räumlichkeit, in der sich politische Umwälzungen und Brüche im Stadtbild nicht nur manifestieren, vielmehr sei die Transformation der Stadt ein ganz entscheidener Schritt auf dem Weg zu einer neuen (politischen) Ordnung. Im Vortrag stellte die Referentin die literarische Inszenierung eines ganz konkreten (politischen) Systemwechsels in den Blick. Gemeint ist der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und die Gründung der Tschechoslowakei. Dazu wurden die Feuilletons Třásničky dějinných dnů Richard Weiners, die zwischen 1918/1919 in den Lidové Noviny erschienen und Franz Carl Weiskopfs 1931 publizierter Roman „Das Slawenlied“ vergleichend gelesen. Mascher fokussierte ihr Interesse auf die Transformation des urbanen Raums mit seinen erinnerungs- und identitätspolitischen Implikationen.
Der Block wurde mit einem Vortrag von Mgr. Blanka Mongu, PhD (Bratislava) über „Die ideale kleine Großstadt“ des Prags im Feuilleton der Lidové noviny in den 20er und 30er Jahren geschlossen.
In weiteren Vorträgen standen Beiträge über ebenfalls bedeutende Feuilletonisten wie u. a. Josef Čapek, Milena Jesenská und Robert Walser, der als Schweizer im Prager Feuilleton der 20. Jahre äußerst präsent war. Dies soll ihn sogar selbst einmal in Erstaunen versetzt haben, merkte Dr. Barbara von Reibnitz von der Universität Basel in ihrem Vortrag über den Prosa-Miniaturisten an, der Teil eines dreiteiligen Walser-Blocks am zweiten Tag der Konferenz war. Neben Dr. von Reibnitz hielten auch Dr. Sabine Eickenrodt von der Freien Universität Berlin sowie Prof. Dr. Barbara Thums von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Vorträge zu Robert Walsers feuilletonistischem Schaffen.
Wie die Prager Zeitungen auch in der Weimarer Republik gelesen wurden
Bei der anschließenden Diskussion stellten Besucher die durchaus berechtigte Frage, wo – außer in Prag – die deutschsprachigen Blätter gelesen wurden. Einen Fingerzeig gibt im Fall des seinerzeit an der Universität Hannover dozierenden Professors für Philosophie Theodor Lessing (1872 – 1933), der am 25. April 1925 sein kritisches „Hindenburg-Portrait“ [Originaltext im Online-Archiv] im Prager Tagblatt veröffentlichte und damit für Aufsehen in der Weimarer Republik sorgte. Offene Kritik am Reichspräsidenten war ein Skandal, der vom deutschnationalen und antijüdischen Lager abgestraft wurde. Als mit dem Erstarken der rechtskonservativen Kräfte in Deutschland der Druck auf Lessing immer größer wurde, emigrierte er schließlich 1933 nach Marienbad, wo er am 31. August desselben Jahres an den Folgen einer Schussverletzung starb, die ihm tags zuvor von sudetendeutschen Nationalisten zugefügt wurde. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die deutschsprachigen Blätter sehr aufmerksam auch außerhalb Prags, Böhmens und Mährens gelesen wurden, da sie einerseits eine Alternative zu der immer nationalistischeren Presse in Deutschland, aber auch Österreich darstellten, andererseits aber auch in Zeiten des zunehmenden Populismus, wie man heute sagen würde, als Periodika mit einem hohen journalistischen Anspruch und Seriosität wachsenden Einfluss gewannen.
Richard Weiners Třásničky dějinných dnů
Dem innerhalb der tschechischen Literatur eine Sonderrolle einnehmenden Schriftsteller und Journalisten Richard Weiner (1884 – 1937) widmete sich in seinem Vortrag Dr. Peter Zusi von der Londoner UCL School of Slavonic & East European Studies. Unter dem Titel „Richard Weiner´s Třásničky dějinných dnů and the relation between his journalism and fiction“ (Richard Weiners Splitter der geschichtlichen Tage und die Beziehung zwischen seinem Journalismus und seiner Dichtung.) ging Dr. Zusi auf Weiners feuilletonistisches Schaffen ein, das – wie er sagte – dazu einlud eine bestimmte Art der Maske aufzusetzen, die in gewöhnlichen Artikeln nicht vorhanden sei. Das feuilletonistische Schreiben sei eine journalistische Kunstform, die, wie später von Teilnehmern der Konferenz angemerkt wurde, seinerzeit von hochbezahlten und hochqualifizierten Autoren betrieben wurde.
Weiner, dessen abstrakte Schreibweise oft mit der Kafkas verglichen wird, galt für den tschechischen Literaturhistoriker František Götz als Vertreter des literarischen Kubismus. Nach seinem Studium und seinem freiwilligen Militärdienst entschied sich Weiner nach Paris zu gehen, um als freier Journalist und Korrespondent für die Samostatnost (Unabhängigkeit) zu arbeiten, doch während des ersten Balkankrieges wurde er 1912 zum Militärdienst eingezogen. Als er 1913 nach Paris zurückkehrte, konnte er als Korrespondent für die Lidové noviny arbeiten und einen ersten Lyrikband herausbringen, doch schon ein Jahr später wurde er beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges erneut einberufen, erlitt 1915 einen Nervenzusammenbruch und wurde ausgemustert. Erst 1919 konnte Weiner wieder als Korrespondent für die Lidové noviny nach Paris zurückkehren. Im Laufe der Jahre hatte Weiner tausende Feuilletons zur französischen Kultur und Politik verfasst.
Milena Jesenská als Journalistin und Übersetzerin
Wenn man über das Feuilleton im Prag der 20er Jahre referiert, darf eine Frau nicht fehlen. Die Rede ist von Milena Jesenská (1896 – 1944). Prof. Dr. Jindřich Toman von der University of Michigan in Ann Abor weist ausdrücklich darauf hin, dass Milena Jesenská häufig zu Unrecht als „Freundin Kafkas“ begrenzt wahrgenommen wird. Zu umfangreich ist ihr literarisches und journalistisches Schaffen, zu bewegt war ihr Leben, als das man diese Frau der literarischen Moderne lediglich auf die Bekanntschaft mit Franz Kafka reduzieren könnte. Sie schrieb für die Kulturzeitschrift Přítomnost (Gegenwart), die Tribuna, die avantgardistische Zeitung Pestrý týden (Bunte Woche) sowie für die Frauenseite der Národní listy (Volksblätter), war Mitglied der linken, intellektuellen Gruppe Devětsil und übersetzte Texte von Franz Werfel, Kurt Landauer, Rosa Luxemburg und natürlich auch Franz Kafka („Der Heizer“, 1920 unter dem Titel „Topič“ in der Zeitschrift Kmen erschienen). In ihrer Reportage vom 27. Oktober 1937 berichtete sie in der Přítomnost von der Ankunft deutscher Flüchtlinge in Prag. Neben Prof. Toman referierte auch Prof. Dr. Gertraude Zand vom Institut für Slawistik der Universität Wien über Milena Jesenská und ihre Wiener Feuilletons. Denn Jesenská schrieb für die Tribuna eine Reportagenserie über die soziale Lage in Wien. Prof. Zand untersuchte in ihrem Vortrag die Beweggründe für die journalistische Tätigkeit, die Themen und die Motive ihrer von 1919 bis 1925 in den Národní listy und der Tribuna erschienenen Feuilletons aus Wien sowie ihre Beziehung zur tschechischen Leserschaft.
Der Aspekt der Flanerie im Feuilleton der Autorin Zofka Kveder
Am letzten Tag referierte Irina Wutsdorff mit einem Beitrag unter dem Titel „Flanerie aus Kinderperspektive? Aneignung des öffentlichen Raums in Zofka Kveders Prag-Feuilletons und ihrer Prosa“. Die slowenische Schriftstellerin, Publizistin und Frauenrechtlerin Zofka Kveder betätigte sich nicht nur in verschiedenen Textsorten und -gattungen, sondern tat dies auch in mehreren Sprachen. Neben Slowenisch und Kroatisch schrieb sie auch auf Tschechisch und Deutsch. Ein prägender Strang ihrer Arbeiten in Feuilleton wie Belletristik setzte sich mit der Flanerie auseinander und eignete sich mit diesem Modus der Wahrnehmung wie der Darstellung der Großstadtwelt der Moderne an. Dies lässt sich auch in den Texten nachvollziehen, die sie für slowenische sowie deutsch- und tschechischsprachige Zeitungen in ihrer Prager Zeit verfasste.
Weitere Referenten aus den USA, England und Kanada
Die Konferenz mit zahlreichen weiteren, Beiträgerinnen und Beiträgern, u. a. aus England, den USA und Kanada, zeigte deutlich, dass das Themenfeld des Prager Feuilletons während der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Monarchie und in der Ersten tschechoslowakischen Republik noch viel Forschungspotential bietet. Längst sind noch nicht alle Autoren und Periodika erforscht. Gründe dafür liegen einerseits in einem bislang erschwerten Zugang zum Archivmaterial – bis 1989 war der Zugriff auf viele tschechische Archive faktisch unmöglich für westliche Wissenschaftler und auch heute steht eine restlose digitale Erfassung noch aus – andererseits hat sich in den letzten 70 Jahren ein vereinfachtes Prag-Bild, wie das von Pavel Eisners oft zitiertem „dreifachen Ghetto“ etabliert, was in zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern, wie u. a. bei Klaus Wagenbach, zu einem einseitig gefärbten Prag-Bild führte. Es gilt daher die Bedeutung des zweisprachigen Presseverkehrs sowie die politischen Dimensionen des Prager Feuilletons mit seinen Verflechtungen entlang der deutsch-tschechischen Sprachgrenze zu erforschen und alte Deutungen noch einmal zu überdenken.
Prag, 2. Januar 2019
Konstantin Kountouroyanis