Steht auf einem Einbandumschlag der Name Hartmut Binder verspricht das Tiefgang, Fakten- und Detailtiefe und die Präsentation einer oft Jahre langen Recherchearbeit in europäischen Archiven. So ist es auch nicht anders bei Hartmut Binders monografischem Band zum wahrscheinlichen Meister der Phantastischen Literatur "Gustav Meyrink - Ein Leben im Bann der Magie". Kennern der literaturwissenschaftlichen Szene muss man den Germanisten Hartmut Binder nicht erklären. Vielleicht sollte man aber als Anmerkung hinzufügen, dass Binder Literaturstudenten meiner Generation - der 90er Jahre - u. a. mit zahlreichen Arbeiten zu Kafka und seiner Zeit (siehe u. a. Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater, 1976, Kafka-Handbuch in zwei Bänden. 1979 und Kafka: Der Schaffensprozeß, 1983) überwiegend als Kafka-Experte in Erinnerung geblieben ist. Doch bereits mit "Prager Profile: Vergessene Autoren im Schatten Kafkas" (1991) hat Hartmut Binder sich auch weniger bekannten Autoren (u. a. Rudolf Fuchs, Hans Klaus und Karl Brand) der deutschsprachigen Literaturszene Prags zwischen 1890 - 1933 zugewendet und seine Liebe zum Detail - und das ist durchaus positiv gemeint - erneut bewiesen.[1]
Gustav Meyrink zählt nicht zu den großen Unbekannten der Prager Autoren deutscher Zunge. Im Gegenteil: Neben Manfred Lube[2] haben sich u. a. auch Florian Marzin[3], Peter Cersowsky[4] und auch Mohammad Qasim[5] mit seiner auch heute noch interessanten Dissertation an der LMU München mit dem dem Okkulten zugeneigten Autor Gustav Meyrink auseinandergesetzt. Bei aller gebotener Achtung vor seiner Lebensleistung darf aber gefragt werden, was Hartmut Binders Meyrink-Band Neues zu bieten hat. Worin unterscheidet sich Binders Meyrink-Monografie von den Arbeiten seiner literaturwissenschaftlichen Kollegen und wer kommt als Leserzielgruppe infrage?
Betrachtet man den - für tschechische Verhältnisse - recht hochpreisigen Band, fällt zunächst die enorme Seitenfülle auf. Ganze 784 Seiten zählt Binders Meyrink-Band inklusive aller Endnoten und Anhänge. Als nächstes sticht der Verlagsname auf dem Buchdeckel ins Auge. Der Vitalis-Verlag wurde 1993 von dem Österreicher und promovierten Mediziner Harald Salfellner in Prag gegründet und tritt hauptsächlich zwar mit einem Prag und Böhmen literaturlastigen, insgesamt aber recht gemischten[6] Verlagsprogramm auf dem Markt auf.
Weiterhin wartet der Band mit 303 Abbildungen, die Hartmut Binder wieder einmal mit viel Hartnäckigkeit europäischen Archiven und Verlagen abtrotzte, sowie 2463 Endnoten auf. Neben weiteren handwerklichen Qualitäten wie einem Namens- und sogar einem Ortsregister, ist aber vor allem das recht umfrangreiche Werkverzeichnis zu Gustav Meyrinks Veröffentlichungen hervorzuheben.
Der gemeinsame Entstehungsprozess von „Der Golem“ und „Die andere Seite“
Bevor auf das Inhaltsverzeichnis eingangen wird, muss an dieser Stelle auf drei Kapitel hingewiesen werden, die wohl jeder Meyrink-Leser erwartet hat. Es handelt sich natürlich um den "Golem". Binder beschreibt die Entstehungsgeschichte des "Golems", die als eine der "kuriosesten Textbeziehungen"[7] zwischen Alfred Kubins "Die andere Seite" und Gustav Meyrinks "Der Golem" in "der modernen Literatur"[8] gilt, nicht einfach nur narrativ, sondern bettet ihre Entstehungsgeschichten in den Kontext von Meyrinks Aufenthaltsorten (München, Starnberg, Possenhofener Straße und Starnberg Ludwigsstraße) in das jeweils übergeordnete Kapitel seiner Lebensphasen ein. Denn, wie allgemein bekannt ist, zog sich der Schaffensprozess des "Golems" über viele Jahre hin, während ursprünglich Alfred Kubin mit der Illustration einzelner Kapitel des Meyrinkschen "Golems" beauftragt wurde, die Kubin allerdings dann teilweise für seinen zwischenzeitlich eigenen nidergeschriebenen Roman "Die andere Seite" verwendete. Der spät fertiggestellte Golem-Roman wurde dann von Hugo Steiner-Prag illustriert. In den vier Kapiteln (Golem I, Golem II, Golem III und Golem IV) geht Hartmut Binder noch mal alle Phasen der Textentstehung beider Romane unter Hinzuziehung des in den Archiven befindlichen Briefmaterials durch. Dabei werden zwar bekannte historische Begebenheiten des Schaffensprozesses noch erneut rezitiert, wie z. B. den mittlerweile bekannten Besuch des Wiener Freunds Friedrich Eckstein, der Gustav Meyrink den Vorschlag gemacht haben soll, seine Romanfiguren auf einem Sachbrettmuster zu positionieren[9], um aus einer seiner zahlreichen Schaffenskrisen wieder herauszukommen, doch ist einerseits Binders Beschreibung der einzelnen Phasen der Entstehungsgeschichte wesentlich detailreicher, weil mehr Quellen hinzugezogen wurden und andererseits oft redundant bestätigt. Binder weist ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer zweiten Quelle hin, um historische Vorkommnisse immerhin als wahrscheinlich bzw. plausibel einstufen zu können und zeigt damit, dass sein Meyrink-Band keine einfache Faktensammlung ist, sondern der Versuch aus historischem Material brauchbare und falls möglich sogar neue Schlüsse zu ziehen. So schreibt Binder zu dem o. g. Fallbeispiel:
"Daß [sic[10]] der hier beschriebene Vorgang tatsächlich statthatte [sic], legen auch Erinnerungen Max Krells nahe, der freilich von einem anderen Helfer weiß; zwei voneinander unabhängige, den gleichen Sachverhalt betreffende Überlieferungen dürften schwerlich frei erfunden sein, auch wenn man ausschließen darf, daß [sic] Meyrink von zwei verschiedenen Personen in gleicher Weise unterstützt wurde."[11]
Gustav Meyrink als Propagandist im Auftrag des Auswärtigen Amtes?
Ein weiteres aus literaturhistorischer Perspektive interessantes Kapitel lautet "Im Auftrag des auswärtigen Amtes"[12], in dem Binder auf mehrere Quellen verweist, u. a. ein Notizbuch, das sich heute in der Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam befindet, aus denen hervorgeht, dass Gustav Meyrink zwar einen recht pikanten Auftrag des Deutschen Reiches annahm, der aber nie über einen Entwurfscharakter hinauskam.
"[...] Meyrink sei spätestens im Juli 1917 telegraphisch ins Auswärtige Amt nach Berlin gebeten worden, wo man ihm den Vorschlag gemacht habe, einen Roman zu schreiben, in dem die Freimaurer, insbesondere die französischen und italienischen, für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht werden sollten [...]"[13]
Bei dem Romanvorschlag sollte es nicht bleiben. Die deutsche Propaganda plante auch Meyrinks aktive Beteiligung an einem Filmprojekt, was ein Brief vom 22. November 1917 vom Architekten Peter Behrens an den Direktor der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes Erhard Deutel-Moser verrät:
"[...] Ich möchte [...] Ihnen mit[...]teilen, daß [...] meine Unterredung mit Herrn Meyrink den Erfolg hatte, daß er nunmehr gern bereit ist, die Bearbeitung des Films zu übernehmen."[14]
Der komplette Brief ist in Binders Meyrink-Band abgedruckt.
Binder geht auch in diesem Fall akribisch der Frage nach, wie sich Gustav Meyrink gegenüber dem Angebot und natürlich auch dem Auswärtigen Amt verhalten hat, wie weit die Arbeiten zu dem Romanprojekt bzw. Drehbuch gekommen sein dürften, ob es auch zu einer Auszahlung eines Honorars kam und über welche Summen diskutiert wurde. Auch wenn diese Episode schon einen gewissen Sensationscharakter hat, verrät sie mit Sicherheit mehr darüber, wie Gustav Meyrink gegen Ende des Ersten Weltkrieges sowohl von seinen Lesern, als auch von den politischen Machthabern gesehen wurde, als dass sie nun Gustav Meyrink als Propagandisten im Auftrag des Deutschen Reiches entlarven könnte. Auf jeden Fall handelt es sich um eine interessante Begebenheit, die so detailliert - meines Wissens nach - noch nirgendwo sonst zuvor erschien.
Wie eingangs angekündigt soll nun dem Inhaltsverzeichnis Aufmersamkeit geschenkt werden. Hartmut Binder hat es schlicht in zwei Teile eingeteilt. Der erste Teil präsentiert den "Geschäftsmann", beginnt aber mit Meyrinks Geburt, der Schulzeit der Hinwendung zum Okkulten und behandlet weiter Meyrinks Schicksalsschläge "Krankheit", "Ehrenaffären" und die Haft, mit der Meyrink bekannterweise im Golem seine Abrechnung gehalten hat.
Gustav Meyrink als Übersetzer von Charles Dickens Werken
Der zweite Teil lautet: "Der Autor" und behandelt zahlreiche Texte Gustav Meyrinks eingebettet im Kontext seiner Lebensphasen und Aufenthaltsorte bis zu den letzten Jahren seiner Schaffensphase. Neben dem bereits angesprochenem "Golem" werden Essays, Satiretexte und Theaterstücke, aber auch Gustav Meyrinks Tätigkeit als Übersetzer literarischer Werke diskutiert. Doch im Gegensatz zu seinen anderen Prager Amtskollegen Rudolf Fuchs oder Friedrich Adler, übersetzte Meyrink nicht Texte aus dem Tschechischen ins Deutsche, sondern u. a. Werke von Charles Dickens[15] und Rudyard Kipling aus dem Englischen ins Deutsche. Das Kapitel ist zwar interessant, allerdings mit gerade mal zweieinhalb Seiten recht kurz gehalten.
Fazit:
Hartmut Binder ist es gelungen, eine 784 Seiten starke Arbeit zu verfassen, die sowohl bedeutsam für das Fachpublikum, als auch unterhaltsam für den literarisch interessierten Leser ist. Umfangreiche Recherchen in europäischen Archiven und der Abgleich mit dem vorhandenem Kenntnisstand bringen neue Erkenntnisse ans Tageslicht und lassen so neue Schlüsse zu bereits bekannten historischen Begebenheiten zu. Aufgrund der äußerst detaillierten Recherche ergänzt der Band nicht nur die zahlreichen vorausgegangenen Publikationen von Peter Cersowsky bis Mohammad Quasim, sondern bietet zugleich eine erste wirklich kompakte Meyrink-Biografie.
Autor: Hartmut Binder
Titel: Gustav Meyrink - Ein Leben im Bann der Magie
ISBN: 978-3-89919-078-6
Preis: € 49,90 (D)€ 51,40 (Ö)
Prag, 26.05.2017
Konstantin Kountouroyanis
Artikellink: http://prag-aktuell.cz/blog/neues-vom-meister-der-phantastischen-literat...
Endnoten:
[1] Insbesondere in dem zuvor genannten 1991 erschienenen Band hat Binder auf Kafkas beratendes Verhältnis zum sieben Jahre jüngeren Rudolf Fuchs beschrieben und die Ergebnisse der Literaturwissenschaftlerin Ilse Seehase (Vgl. Seehase, Ilse: "Drei Mitteilungen Kafkas und ihr Umfeld" in: g Zeitschrift für Germanistik 2 . 87, Leipzig, 8. Jg., April 1987, Heft 2, S. 178 - 183) einer erneuten, korrigierenden Betrachtung unterzogen.
[2] Manfred Lube: Gustav Meyrink : Beiträge zur Biographie und Studien zu seiner Kunsttheorie, Graz 1980
[3] Florian F. Marzin: Okkultismus und Phantastik in den Romanen Gustav Meyrinks, Essen 1986
[4] Peter Cersowsky: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts : Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der "schwarzen Romantik" insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka, München 1983
[5] Mohammad Qasim: Gustav Meyrink : eine monographische Untersuchung, Stuttgart 1981
[6] U. a. sind Titel im Programm wie: Daniel Defoe, Leben und Abenteuer des Robinson Crusoe, Harald Safellner: Die besten böhmischen Rezepte und Harald Salfellner: Prag - Ein Reiseführer, deren Bezug zur Prager/Böhmischen/Mährischen Literatur sich mir verschließt.
[7] Andreas Geyer in einem Fax vom 2. Februar 1999 zu meiner Magisterarbeit an der Universität Hannover.
[8] ebd.
[9] In Mohammad Qasims Dissertation (1981) wird diese Begebenheit auf Seite 131 beschrieben. Bei Hartmut Binder 2009 auf Seite 457.
[10] Das Textbeispiel zeigt im Übrigen auch, dass in Binders Meyrink-Band auch Austriazismen vorkommen (daß statt dass, statthatte, statt stattfand), was vermutlich dem österreichischen Lektor des Verlages geschuldet sein dürfte.
[11] Binder, Hartmut: Gustav Meyrink - Ein Leben im Bann der Magie, Prag 2009, S. 457/458
[12] ebd. S. 606 - 612
[13] ebd. S. 606/607
[14] ebd. S. 608
[15] Hier sei auf die Übersetzung von Dickens "Bleak House" hingewiesen.