Am vergangenen Montag sind erneut Tausende in Prag und andernorts in der Tschechischen Republik auf die Straße gegangen, um gegen den Premierminister Andrej Babiš sowie die Ernennung Marie Benešová zur Justizministerin zu demonstrieren. Gegen den Premierminister werden Korruptionsvorwürfe erhoben (prag aktuell berichtete). Mit der Ernennung der neuen Justizministerin fürchten die Demonstranten eine Vertuschung des Skandals (prag aktuell berichtete). Allein in Prag sollen sich am Altstädter Ring ca. 25.000 Menschen versammelt haben. Stimmen diese Zahlen, so wären das 10.000 mehr als bei der Demonstration, die eine Woche zuvor in Prag stattfand. Viele Demonstranten kamen auch von außerhalb nach Prag, um gegen den Ministerpräsidenten des Landes zu demonstrieren.
Politiker anderer Parteien beteiligten sich an dem Protest
Dem Aufruf des Netzwerks „Milion chvilek pro demokracii“ (Eine Million Augenblicke für die Demokratie) folgten am 06. Mai 2019 nicht nur mehr Menschen als bei den Demonstrationen der vergangenen 12 Monate üblich, sondern auch Politiker anderer Parteien und Städte. Neben Jakub Michálek von den tschechischen Piraten, traten auch Petr Dolínek (Koalitionspartei ČSSD / Sozialdemokraten), Martin Kupka (ODS / Demokratische Bürgerpartei), Jan Čižinský (KDU-Abgeordneter / Christendemokraten), Jiří Pospíšil (Partei TOP 09) sowie der aus Mittelböhmen angereiste Bürgermeister der Stadt Kolín Vít Rakušan als Redner auf.
Beifall für Michálek (Piratenpartei)
„Es muss die Zeit vorbei sein, in der in diesem Lande Marketing-Berater regieren! Fangen wir mit den EU-Wahlen an, so dass wir demokratische Parteien wählen werden!“ sagte Jan Čižinský, während Jakub Michálek in seiner Stellungnahme das Auftreten des Premierministers als „Parodie auf eine Korruptionsbekämpfung“ sah. Die Menge rief den Podiumsteilnehmern als Antwort „Ihr seid nicht allein!“ und sicherte ihnen damit ihre Unterstützung zu.
Foto: Richard Herrmann
"Wir sind keine Kinder!" steht auf dem Plakat.
Pfiffe für Dolínek (ČSSD)
Weniger euphorisch wurde das Auftreten Petr Dolíneks, der dem Koalitionspartner angehört, begrüßt. Der Vorsitzende der Bewegung „Milion chvilek pro demokracii“ und Moderator der Demonstration Mikuláš Minář musste die Menge auffordern, sich zu beruhigen, damit Dolínek zu Wort kommen konnte. „Wir werden in der Regierung nicht um jeden Preis mit der ANO-Partei bleiben. Wir werden nicht blind sein. Wir werden nicht gleichgültig sein. Wir werden nicht zulassen, dass sich die strukturelle Zusammensetzung der Staatsanwaltschaft ändert!“ sagte der stellvertretende Vorsitzende der ČSSD und Mitglied der Abgeordnetenkammer des Europäischen Parlaments. Neben einigen Beifallsbekundungen folgten auch zahlreiche Pfiffe. Teilnehmer unterstellten dem 38jährigen Lippenbekenntnisse.
Demonstranten fordern „Honzák auf die Burg“
Heimlicher Star der Demonstration war aber Radkin Honzák. Der 80jährige Publizist, Psychiater und Universitätsdozent hat sein Land schon durch viele Höhen und Tiefen gehen sehen. Begeistert riefen ihm die Demonstranten nach seiner Rede zu: „Honzák na Hrad!“ („Honzák auf die Burg“). Eine Anspielung auf den Slogan, der während der „Sanften Revolution“ 1989 von Anhängern des späteren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel gerufen wurde: „Havel auf die Burg!“ Viele Demonstranten sehen ihr Land heute wieder in ähnlichen Verhältnissen, wie zur Zeit der Revolution. So auch Honzák, der sein Erscheinen bei der Demonstration in sozialen Netzwerken mit den Worten ankündigte: „... und wir treffen uns wieder, wie vor 30 Jahren, aber damals war das Wetter schlechter. Die Revolution hat bereits begonnen!“. In seiner Rede warnte er „die Mächtigen“ davor, sich nicht an die der Demokratie immanenten Regeln zu halten und das Volk in seiner Kritikfähigkeit zu unterschätzen. Auf den Plakaten der Bürger standen Parolen wie z. B.: „Wir sind keine Kinder!“ oder „Wir sind nicht blind!“ und „Wir sind nicht deine Firma!“
Foto: Richard Herrmann
Plakataufschrift: „Tschechien wird niemals deine Firma sein, Bureš !!! (und auch nicht seine Justiz)“ [Bureš war der Deckname Andrej Babiš´ während seiner Zeit beim Geheimdienst der ČSSR]
Honzák warnt „die Mächtigen“
Honzáks warnende Worte richteten sich nicht nur an Andrej Babiš, sondern an eine elitäre Gruppe, die derzeit auf der Prager Burg die Geschicke des Landes führt: „Und ich wünsche mir, dass die Mächtigen aus uns keine Sklaven ihrer Gelüste machen. Die Tatsache, dass sie gewählt worden sind, heißt noch lange nicht, dass sie Auserwählte sind, und keinesfalls für die Ewigkeit!“ sagte der hochbetagte Autor mehrerer Bücher.
Demonstranten klingeln mit Schlüsselbunden
Demonstranten klingelten mit ihren Schlüsselbunden. Eine Anspielung auf die Ereignisse im Revolutionsjahr 1989, als Tausende Demonstranten auf dem Wenzelsplatz mit diesem Signal das Ende der kommunistischen Diktatur einläuteten. Viele Demonstranten wollen sogar eine „zweite Wende“ sehen während Mikuláš Minář ankündigte, dass ggf. kommende Demonstrationen aus Platzgründen nicht mehr auf dem Altstädter Ring, sondern auf dem Wenzelsplatz stattfinden werden, wenn der Zustrom der Demonstranten weiter so anhielte. Unterdessen kündigte das Netzwerk „Milion chvilek pro demokracii“ die nächste Protestkundgebung für den kommenden Montag, 13.05.2019, an.
Prag, 08.05.2019
Konstantin John Kowalewski