Fangen wir hinten an, mit Österreich gegen die Türkei. Welch ein Glück, dass ich noch gerade rechtzeitig den Weg von meiner Mailbox zum tschechischen Fernsehen finde, denn bei diesem Spiel geht es gleich los. Noch keine Minute gespielt, da steht es 1:0 für die Türkei. Es ist ein Tor, das man eher in der D-Jugend als bei den Profis sehen kann. Ein Eckball wird extrem nah ans Tor gezogen, der Torwart klebt paralysiert auf seiner Torlinie, am hinteren Pfosten steht noch ein Verteidiger, der den Ball nach vorne prallen lässt, auf einen anderen Verteidige ein, zwei Meter vor ihm, der den Ball wiederum zurück Richtung Torlinie prallen lässt, wo der aufgescheuchte Torwart den Ball mit einer Hand von der Torlinie wegpatscht, wo dann der türkische Vorstopper (übrigens ein übler Faschist) energisch dazwischengrätscht und den Ball aus kurzer Distanz reinhaut.
Slapstick-Tor
Pleiten Pech und Pannen? (ehemalige deutsche Schadenfroh-Serie mit Lachzwang) Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß (Zitat: unbekannter Mittelstürmer, genannt Chancentod). Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Pech hinzu. (ehemaliger Fußballphilosoph, dessen Namen wir aus Pietät nicht nennen wollen) Das Klischee muss noch ausgegraben werden, um diese Aktion in ihrer ganzen Tragweite zu würdigen. Rund zwei Stunden später wissen wir, dass die Österreicher genau deswegen nach Hause fahren müssen. Na ja, sie haben es ja nicht weit. Ralf Rangnick, Fußballprofessor h.c. und zeitgleich Nationaltrainer Österreichs, wird’s kurz die Fassung verschlagen haben, so was kann selbst er in keinem Matchplan voraussehen.
Österreich belagert die Türken
Gleich im Gegenzug schießt Baumgartner nur Zentimeter am Ausgleich vorbei. Gleich darauf gibt es einen Eckball und Österreich probiert dieselbe Eckballvariante wie der Gegner, am hinteren Pfosten rutscht Baumgartner wieder um Zentimeter am Ball vorbei ins Tor. Die Türken können von Glück sagen, dass der davor postierte Verteidiger ein Luftloch tritt und ihm der Ball irgendwie an die Unterseite des Oberschenkels prallt, von wo er am langen Pfosten vorbei ins Aus trudelt. Man muss diese unfassbaren Szenen so minutiös schildern, um zu verstehen, was für Szenen sich in den ersten Minuten auf dem Platz abspielen. Und die Österreicher machen weiter Dampf, diesmal belagern sie die türkische Festung. Doch wie einst Wien, so hält auch die türkische stand. Zumindest bringt dieses Spiel nach sieben Minuten mehr Aufregung und Torgefahr, als Frankreich, Belgien, Portugal und Slowenien am Vortag zusammen.
Frankreich zum Einschlafen
Von Frankreich war nichts anderes zu erwarten. Solides Fußwerk gegen den Ball, ein paar Halbchancen vorne und ein Eigentor reichen für das Viertelfinale. Eine Szene aus der zweiten bis vierten Minute liefert die Blaupause für das Spiel. Belgische Verteidiger spielen sich am eigenen Sechzehner den Ball zu, vor ihnen steht in Zweierreihe ein Pressingblock Frankreichs, der aber nicht wirklich presst, sondern nur die Räume zustellt. Jetzt hätten beide Mannschaften in dieser Formation locker ein Stunde weitermachen können und ich wäre friedlich eingeschlafen. Die Zuschauer hätten angefangen zu pfeifen – was sie übrigens bei der französischen Nationalhymne taten. War das ein politisches Statement? Protestierten die neutralen Zuschauer damit gegen die Faschisierung des Landes am Tag nach den Parlamentswahlen?
Auf jeden Fall verliert ein belgischer Verteidiger die Nerven und fordert sein Mittelfeld auf, mitzuspielen und sich anzubieten, um den französischen Pressingblock zu überspielen. Das ist aber das falsche Signal, denn von da an spielt Kevin de Bruyne, der einzige Mittelfeldspieler mit Spielwitz auf dem Platz, zu weit hinten, um vorne gefährlich zu werden. Zwischen der dreißigsten und vierzigsten Minute fallen mir die Augen wirklich langsam zu, dann passiert doch mal was. Nein, nichts Weltbewegendes, nur der Anflug eines Hauches einer Torchance, frei nach Karoline von Günderrode.
Frankreich bemüht, aber einfallslos
In der zweiten Hälfte spielt Frankreich etwas offensiver und Tchouameni schießt ein paar Mal über und neben das Tor, sogar Mbappé wagt mal ein Dribbling mit Abschluss, ist aber weitgehend aus dem Spiel genommen. Wie auf der Gegenseite Lukaku, dessen einzigen Toschuss aus etwas zu spitzem Winkel der französische Torwart sicher hält. Bei Frankreich fehlt eindeutig Futtelkönig Dembelé, so dass die spektakulärsten Aktionen seiner Mannschaftskollegen sogenannte „Monstergrätschen“ der Abwehrspieler darstellen. Um die 80. Minute herum hat de Bruyne die eine Torchance und kommt etwa von der Strafraumgrenze frei zum Abschluss, der der Torwart pariert.
Zufallseigentor entscheidet
Das Tor fällt auf der anderen Seite mit der einzigen Möglichkeit, wie dieses Spiel noch entschieden werden konnte, nämlich durch ein Eigentor. Kolo Muani hat im Sechzehner etwas Raum, bekommt den Ball, dreht sich und schließt ab. Mit seinem rechten Fuß schießt er sein linkes Bein an, von dort fliegt er einem belgischen Verteidiger ans Bein oder Knie (Vertongeren?) und eigentlich ungefährlich aufs Tor, dort wo Torwart Casteels steht. Nein, eben nicht mehr, denn er hechtet ins lange Eck und ist geschlagen. Die restlichen paar Minuten können wir uns schenken, natürlich drängt Belgien nochmals ein bisschen und schießt nochmals Richtung Tor. Aber wenn du in vielleicht acht verbliebenen Minuten mehr Zug zum Tor entwickelst als in der gesamten zweiten Hälfte zuvor gelingt selten ein Glückstreffer.
Vorne läuft nichts, hinten brennt nichts an
Schon gar nicht gegen Frankreich, diese Fußballmaschine ohne Inspiration und – jetzt hört her – ohne Seele, wage ich zu behaupten. Vorne läuft fast nichts, hinten brennt aber auch nichts an. Das bisher einzige Gegentor im Turnier entstand aus einem Konzessionselfmeter, für den Lewandowski gnädigerweise einen zweiten Versuch erhalten hat. Hoffen wir mal, dass der Beton der französischen Atomkraftwerke genauso so fest ist wie der, den Deschamps von seiner Fußballferwaltungsfachabteilung (kurz: FFF) anrühren lässt.
Abends dann Cristiano Ronaldo und seine Zuarbeiter gegen Slowenien. Das Spiel ist wie zu erwarten. Portugal macht das Spiel, meistens langsam, damit die Altstars Ronaldo und Pepe noch mithalten können, Slowenien ist kantig, schnörkellos, konditionsstark und setzt hier und da mal einen Konter. Ronaldo bietet sich in der Spitze an, wird auch gesucht, kann sich aber kaum durchsetzen und hadert mit Gott und der Welt. Einmal noch macht er seine Mehrfachübersteiger am linken Flügel, das erinnert an James Browns Tänzelschritt bei seinem letzten Konzert in Prag, wenige Wochen danach verließ der König des Funk diese Welt.
C. Ronaldo – ein Trauerspiel
Nein. Portugal würde ohne Ronaldo besser spielen, variabler, schneller und schwerer ausrechenbar. Und vielleicht auch mal einen gefährlichen Freistoß schießen. So sehen wir nur dieselbe Prozedur wie seit Jahrzehnten. Ronaldo schnappt sich den Ball, misst seinen Anlauf ab und schießt den Ball über, neben oder in die Mitte des Tors. Er stemmt aber nicht mehr die Händen in die Hüften und atmet nicht mehr tief durch, bevor er anläuft. Ich kann mich mittlerweile an kein einziges Freistoßtor von Ronaldo erinnern, dabei schaue ich seit Jahrzehnten Fußball.
Ist Ronaldo der Schlechteste?
In der zweiten Hälfte mache ich meinem Unmut Luft, als er einen Freistoß vom linken Flügel hoch und weit neben das Tor setzt. Der Ball hätte selbst beim Rugby nicht gesessen. Meine Tochter wird aufmerksam, kommt gelaufen und will es genau wissen. „Wie hat er den geschossen?“ Sie zeigt mit den Händen, wie der Ball sich vom Tor wegdreht. „Ronaldo, welcher ist das? Ist das der schlechteste?“ Ich zeige ihr auf ihrem Tablet ein Foto. „Und Papa, warum regst du dich so auf?“ Das frage ich mich dann auch, das Spiel bietet nichts, worüber man sich aufregen könnte.
Es geht tatsächlich in die Verlängerung, wobei ich erwäge, abzuschalten und ins Bett zu gehen. Denn Ronaldo versagt auch noch in seiner letzten Paradedisziplin, vom Elfmeterpunkt. Oblak ahnt die Ecke und kratzt den wahrlich nicht schlecht geschossenen Ball von der Linie. Ronaldo ist fassungslos, nur die tröstenden Mitspieler können einen Heulkrampf verhindern. Jetzt muss der Trainer ihn doch auswechseln, denke ich, doch Ronaldo spielt immer, von morgens bis abends, vom Anfang bis zum Ende.
Costa hält alles
Und das Ende hatte Šeško auf dem Fuß. Etwa fünf Minuten vor Schluss verliert der 20 Jahre ältere Pepe allein an der Mittellinie unbedrängt den Ball und Šeško läuft auf und davon, das Siegtor vor Augen. Torwart Costa streckt den Fuß raus und hält Portugal im Spiel und hievt die Mannschaft ins Elfmeterschießen. Dort startet Slowenien und Costa hält. Dann kommt Ronaldo, er traut sich also. Er wählt diesmal die andere Ecke, Oblak ahnt sie, kommt aber nicht an den Ball. Costa hält wieder, ein Portugiese trifft, Costa hält ein drittes Mal, ein Portugiese trifft, die Sache ist vorbei und Ronaldo gerettet.
Hofft Ronaldo auf Trump?
Die Fernsehreporter spekulieren darüber, ob er weitermachen will bis zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Ich wundere mich, ist in den Staaten nicht noch ein Vergewaltigungsprozess anhängig und er würde bei Einreise gleich mal nach Sing Sing oder Alcatraz weiterreisen? Hofft er auf Trump als Präsident, der ihn in seiner Machtbesoffenheit begnadigen wird, egal, ob das in seiner Macht liegt oder nicht? Unter richtigen Alpha-Männern zeigt man ja Verständnis füreinander, stormy Daniels und so, die hat auch viel Geld gekostet, aber nicht die Karriere. Außerdem gilt, was in Las Vegas passiert, bleibt in Las Vegas. Ach ja, Cristiano Ronaldo, ist er nicht eigentlich der Donald Trump des Fußballs?
Wer ist schlechter als Ronaldo?
Aber es gibt da noch einen schlechteren, wie ich meiner Tochter am folgenden Tag beibringe, als sie sich wieder für ein paar Minuten für Fußball interessiert. „Spielt Ronaldo wieder, der schlechteste?“ - „Nein, heute spielt er nicht mit. Heute spielt ein noch schlechterer.“ - „Wer ist das denn?“ Ich zeige auf Arnautović, den Totengräber der österreichischen Viertelfinalhoffnung. Das ist die Tragik der Austriaken, dass sie keinen Besseren für die Spitze haben. Arnautović gelingt nur jedes Schaltjahr mal was (dabei ist dieses Jahr ein Schaltjahr), in diesem Spiel rein gar nichts. Zusätzlich zieht er die Mannschaft mit seiner offen zur Schau gestellten schlechten Laune und dann noch als Kapitän herunter. Die Binde hat er wahrscheinlich nur deshalb bekommen, weil er gegenüber dem Schiedsrichter das Maul sowieso nicht halten kann und so das Recht hat, überhaupt mit ihm zu reden. Einerseits ist das ja eine gute Neuerung, denn somit hören die ewigen Diskussionen und Bedrängung des Unparteiischen endlich auf. Andererseits bekommen Spieler völlig unsinnige Verwarnungen, die richtig weh tun können.
Arnautović
Arnautović ist in diesem Spiel wirklich schlecht, läuft und steht grundsätzlich falsch. Seine Mitspieler liefern ihm den Ausgleich auf dem Silbertablett, doch was macht er? Statt den herausstürzenden Torwart zu überlupfen, schießt er ihn mit aller Wucht und Wut an. Der Mann hat die Niederlage auf dem Gewissen. Weil ja dann noch der türkische Faschist und Verteidiger, der Schütze des Führungstors, einen Eckball reinköpft, steht es plötzlich 0:2. Gregoritsch kann, ebenfalls nach einer Ecke, schnell verkürzen. Österreich stellt sein Spiel wieder von Brechstange auf Belagerung um, Baumgartner scheitert per Kopf noch drei Mal, ach, hätte da doch Gregoritsch gestanden. In der letzten Aktion kratzt der hervorragende türkische Torwart den letzten Kopfball von Baumgartner von der Linie und die Falafel ist gegessen.
Gakpo Mann des Spiels
In all der Aufregung möchte ich aber nicht vergessen, Gakpo zu erwähnen, der mit seinem dritteen Turniertor, einer Vorlage zum entscheidenden 2:0 Mann der Niederlande beim Sieg gegen Rumänien war. Er setzte den Zug aufs Gleis Viertelfinale, indem er die anfangs klar besseren Rumänen noch vor Mitte der ersten Halbzeit durch eine Einzelaktion schockte. Danach kamen diese nie mehr richtig ins Spiel. Überragend war Gakpos Alleingang vom eigenen Sechzehner, wo er sich den Ball selbst holte, bis in den gegnerischen Sechzehner. Der Abschluss war ebenfalls gut, doch leider auch die Torwartparade. Dann kam etwa zehn Minuten vor Schluss die Schlüsselszene des Spiels. Schiedsrichter Zwayer, in Deutschland kein unbekannter, unterband einen vielversprechenden rumänischen Konter wegen angeblich hohem Bein. In der Zeitlupe sah man, dass der Fuß nur kurz hüfthoch war und dem Niederländer den Ball in den Lauf des frisch eingewechselten Sprinterkönigs Mihai (oder so) wegspitzelte. Der Niederländer wurde überhaupt nicht getroffen und wälzte sich das Gesicht haltend auf dem Boden – das war eine grobe Unsportlichkeit in meinen Augen und hier hätte der Video-Assi eingreifen müssen. Eine Minute später blockte ein rumänischer Verteidiger Gakpo vor der Torauslinie weg und schaute zu, wie der Ball vermeintlich ins Aus trudelte. Doch Gakpo landete nicht in der Bande, sondern lief weiter, um den Verteidiger herum, kratzte den Ball von der Linie und passte an einem weiteren verblüfften Verteidiger und dem Torwart vorbei zurück zu Malen, der artig bedank! sagte. Das war's, am Ende setzte Malen bei einem Konter noch einen drauf und das letzte Team von Mittel- und Osteuropa war draußen.