Geplant – getan, das Halbfinale England – Niederlande fällt unter das public viewing Embargo, weil öffentliches Saufen und Grölen bei 30°C nicht zu den umweltfreundlichsten Betätigungen der Insulaner gehören (vgl. The Fall: British People in Hot Weather). Zu Hause ist es auch ganz gemütlich und ich habe meine Ruhe. Die brauche ich auch, rechne ich, vor den anstrengenden nächsten Tagen, erst am Dienstag, also schon weit nach Ende des Turniers, wenn sich nur noch die Siegernation daran wird erinnern können, sehe ich den ersten ruhigeren Tag vor mir.
Hymnensingen ist Pflicht
Dann mal los, Hymnensingen ist für die Nationalspieler beider Mannschaften zur Pflicht geworden, stelle ich fest, da stehen sie sich in Nichts nach. Das Spiel kann also beginnen.
Die Bilanz nach 18 Sekunden: zwei hohe Kopfbälle im Mittelfeld und ein Foul. Wenn es so weiter geht, sollte der Schiedsrichter ein Volleyballnetz entlang der Mittellinie aufstellen lassen. Aber sechs Minuten später klingelt es schon, Rice verliert im Spielaufbau einen Ball an Xavi, der noch ein paar energische Schritte macht und einfach mal so aus rund 20 Metern abzieht. Pickford fliegt bilderbuchmäßig, reckt und streckt sich, der Ball sitzt im linken Winkel. Wow, was für ein Knaller!
Xavi hier, Kane dort
Das Spiel geht ja gut los – und auch weiter. Nach einer Viertelstunde knallt Kane einen Ball aus der Drehung als volley über das Tor. Chance vergeben, aber Pfeifenmann Zwayer wird an den Bildschirm beordert: Dumfries hat übel den Fuß draufgehalten, Zwayer, der ex-Spieleverschieber in der deutschen dritten Liga (in welchem Resozialisierungsprogramm hat der es geschafft, so weit in der Schiedsrichterliga aufzusteigen?), muss einen Strafstoß und eine gelbe Karte geben, da bleibt selbst ihm kein Spielraum mehr. Kane, der gerade noch einen Mittelfußbruch gehabt zu haben schien, schnappt sich den Ball und versenkt ihn nach seiner Blitzheilung sicher unten links (vom Schützen aus gesehen). Und nur gute fünf Minuten später tanzt Phil Foden mit der Abwehr und dem Torhüter ein wenig waltz am Fünfmeterraum und schiebt dem Tormann den Ball überlegt durch die Beine. Dumfries stoppt das Spielgerät deutlich sichtbar auf der Linie, was für eine Rettungsaktion!
Nach einer knappen halben Stunde köpft Dumfries – ja, spielt bei den Niederländern denn sonst noch jemand mit? - einen Eckball an die Latte. Das wär's doch gewesen, ist es aber leider nicht, genau wie Fodens Schlenzer kurz darauf, der am linken Außenpfosten endet.
Spiel verflacht, Tee vermilcht
Das war's dann aber langsam auch mal, genug Aufregung, die englische Spaßbremse tritt wieder in Kraft, teatime!, für die nächste halbe Stunde rührt sich nicht mehr viel außer der Milch im Tee (pfui! Ich trinke täglich zwei bis drei Liter Tee, käme aber nie auf die Idee, Milch hineinzukippen. Aber kein Wunder, wenn one only fermentierte Teeblätter verwendet. Grüner Tee, das ist Tee, aber davon haben die auf ihrer Insel trotz jahrhundertelanger Kolonisation noch nie gehört. Andersherum breiten sich IPA und APA wie eine Seuche aus, das Notbier der englischen Kolonisatoren und Sträflinge, die von der Insel verbannt worden sind. Je stärker der eklige Nachgeschmack ist, desto besser scheint es bewertet zu werden. Eine Geschmacksverirrung und meinem Gaumen.)
Zwayer in Aktion
Die nächste bemerkenswerte Szene im Spiel ist eine Freistoßhereingabe, die van Dijk direkt auf Tor lenkt und Pickford zu einer schönen Parade zwingt. Da ist schon eine gute Stunde gespielt. Zehn Minuten später gibt Xavi auch mal wieder einen Torschuss ab, zwei Minuten danach taucht England wie aus dem Nichts wieder aus der Versenkung auf, der Ball zappelt im Netz, doch der Linienrichter winkt ab, Abseits.
Nackenschlag in Nachspielzeit
Nun tut sich Zwayer wieder hervor, der gute alte Spieleverschieber hat nichts verlernt. In vier, fünf kleinen Situationen benachteiligt er die Niederlande, legt einen Vorteil nach einem Foul falsch aus, ein andermal pfeift er ihn ab, gibt einen klaren Eckball nicht, sieht Fouls, wo keine sind und umgekehrt. Nichts Großes, keine groben Fehlentscheidungen, gelernt ist eben gelernt, doch wie sagte schon Fußballwortschöpfer Trappatoni, Giovanni: „Kleine situazione entscheide große Spiele“. Die Niederländer können dadurch keinen vielversprechenden Ansatz mehr zu Ende spielen und England macht in der Nachspielzeit ein Tor. Watkins, irgendwann eingewechselt (wo spielt der eigentlich?), bekommt den Ball im Sechzehner mit dem Rücken zum Tor, dreht sich und zieht aus spitzem, aber nicht zu spitzem Winkel flach ins lange Eck ab, dem Verteidiger durch die Beine. Der Ball sitzt und England steht im Finale. Mit etwas besserem Fußball als zuvor, doch Veregnügungssteuer würde ich dafür immer noch nicht bezahlen.
England – Spanien 1982
Also dann, am Sonntag Spanien – England. Die letzte Turnierbegegnung der beiden, an die ich mich erinnere, endete 1982 0:0. Was insofern wichtig für Deutschland (West) war, da es so ins Halbfinale einziehen durfte. Die Nacht von Sevilla, Harald „Toni“ Schumachers legendäres Foul an Battiston, überhaupt, die kernige Nationalmannschaft mit Karl-Heinz Förster, Zyniker Paul Breitner, Zehnkämpfer Hans-Peter Briegel, „Quälix“ Felix Magath, Bayern-Scharfmann Karl-Heinz Rummenigge, Kopfballungeheuer Horst Hrubesch, Fallrückzieher-Klaus Fischer und wohl auch „Loddar“-Plaudertasche Matthäus (oder nicht?), diese Namen der unsympathischsten deutschen Großereignis-Truppe aller Zeiten gehen einem doch wie Öl runter. Ach, ich gerate ins Schwärmen (1.2 gegen Algerien; Nichtangriffspakt gegen Österreich, die „Schande von Gijon“; die brutalo-Nacht von Sevilla und der gerade noch so verhinderte kleine Grenzkrieg im Saarland; Finale „Chancenlos gegen Italien“). Wer das erlebt hat, wird es nie wieder vergessen und hat sich die folgenden Jahre bis zur Wiedervereinigung für seine Staatsangehörigkeit entschuldigt.