Am Samstag sollte Top-Favorit Frankreich das Tüpfelchen aufs i machen, doch es kam anders und ich habe es nicht gesehen. Später am Abend kam Spanien zum zweiten Mal nicht über ein Unentschieden hinaus und von Titelverteidiger Portugal ganz zu schweigen. Das Fazit: es ist nicht alles Gold, wo der Lack ab ist und die Iberer sind heuer keine Italiener. Dazwischen liegt Frankreich, nach zwei Spielen zwei Treffer erzielt, davon nur einen selbst, da kann man sich schon fragen, ob Deschamps Benzema durch die Rückholaktion nicht eher bestrafen wollte. Zur Erinnerung: Weltmeister-Stürmer Giroud gab 2018 im gesamten Turnier keinen einzigen Torschuss ab. Doch der Reihe nach.
Ein kleiner Job für Käse-Gael bringt mich um das Frankreich-Spiel. Gael schafft es zwar in die Münchner Arena zu kommen, doch nicht, in Prag bei zwei Märkten gleichzeitig anwesend zu sein. Dafür hat er ein paar Mitarbeiter, die jedoch den Nachteil haben, nicht über eine Fahrerlaubnis für Pkws zu verfügen. Da liegt der lièvre im poivre. Und da komme ich ins jeu. Ich begebe mich in den schönen Park Grebovka, besorge mir das Auto und fahre nach Dejvice zum Bauernmarkt. Dort erlebe ich noch eine erstaunlich polyglotte Stuttgarterin als letzte Kundin, ehe wir dort den Stand abbauen. Dabei passiert mir ein malheur, ein schon etwas wackliger Schreibtisch, der als Unterstand für eine Vitrine dient, fällt in seine Pressspaneinzelteile auseinander und reibt mir die vier Zentimeter über dem Fußansatz der Schienbeinhaut meines starken rechten Fußes ab. Der Knochen bleibt zum Glück unbeschädigt. Ich rufe, das war doch ein klares Foul und fordere die gelbe Karte. Dann eilen die Sanitäter auf den Platz und verbinden fachgerecht die blutende Wunde (schön wär's gewesen, in Wirklichkeit mache ich das selbst und erinnere mich zum Glück noch daran, wie man durch einen Scherenschnitt – wörtlich gemeint, nicht als Kunstform – den Verband am Ende teilt, um ihn zu fixieren).
Frankreich droht Fiasko
Als kleine Revanche erfahre ich ausgerechnet in Gaels Ladengeschäft, dass Ungarn kurz vor der Pause das 1:0 erzielt hat. Ivo und ich wittern eine Sensation. Gael entlässt mich darauf telefonisch – zumindest für den einen Tag – und ich fahre in den Baumgarten zu einem Picknick mit Freunden. Geplant war ein Grillnachmittag, herausgekommen ist ein Picknick mit vorbereiteten Speisen, da die Stadt offenes Feuer wegen der Brandgefahr in der Hitze verboten hat. Kip will mir ein kühles Bier anbieten, kommt jedoch enttäuscht vom Moldauufer zurück. Die Angelschnur ist weg und natürlich auch die beiden daran hängenden Flaschen. Ich entschuldige mich mit meiner noch nicht richtig desinfizierten Wunde und schaffe es punktgenau nach Hause zum Anpfiff zwischen Portugal und Deutschland. Und das lohnt sich tatsächlich, denn ich darf das bisher beste Spiel dieser insgesamt guten EM genießen.
Ronaldo leitet ein und vollendet
Favorit Portugal erwischt es noch böser als Favorit Frankreich, trotz früher Führung durch ein Abstaubertor von Christiano Ronaldo kommen die Lusitaner mit 4:2 gegen Außenseiter Deutschland unter die Räder. Ich halte derweil meinen Fuß hoch, damit die Blutung von selbst aufhört. Meine These vom Vortag scheint sich zu bestätigen, Träiner Löw ist entmachtet und die Mannschaft spielt jetzt so, wie sie es für richtig hält. Über links mit der ungestümen Angriffswucht von Atalanta Bergamo, in der Mitte mit dem Championsleague-Siegtorschützen, der Taktik von Bayern München und im Mittelfeld mit den Motoren und Organisatoren von Manchester City sowie Real Madrid. Es ist zwar dieselbe Elf wie im Frankreich-Spiel, jedoch ein ganz anderes Auftreten (und natürlich ein anderer Gegner).
Studie über das passive Abseits
Bereits nach fünf Minuten klingelt es spektakulär von Gosens, der Video-Assi hat aber ein Abseits von Gnabry erkannt, der zwar keine Chance hat, an die Flanke zu kommen, aber angeblich den Torhüter irritiert hat. Zehn Minuten später klingelt es auf der anderen Seite, Ronaldo köpft einen deutschen Eckball aus dem eigenen Strafraum und setzt zu einem Sprint an. Der Ball landet rechts bei Bruno Fernandes, der ihn diagonal in die Spitze auf den linken Halbflügel spielt. Bei diesem Pass steht Ronaldo im Abseits, da er aber nicht der Adressat des Balles ist, wird er als passiv eingestuft, kann sich dadurch jedoch den entscheidenden Positionsvorteil verschaffen, die Hereingabe über die Linie zu drücken. Das Tor ist regulär. Später schießt Kai Havertz noch ein Tor nach einer scharfen Hereingabe, er selbst steht nicht im Abseits, aber der hinter ihm positionierte Gnabry. Der kann nicht mehr ins Spiel eingreifen, da Havertz vor ihm am Ball ist und wird diesmal als passiv eingestuft, weshalb das Tor gilt. Diese drei Szenen belegen eindrucksvoll, wie in Tagen des Video-Assis Abseits interpretiert wird.
Geschichte des Abseits
Der ganze moderne Fußball dreht sich ja eigentlich vor allenm darum, mit Hilfe dieser Regel schnelle Angriffe zu starten bzw. zu schnelle Angriffe zu stoppen. Das hat die Welt den Belgiern zu verdanken, die etwa um 1980 herum die Abseitsfalle in den Weltfußball eingeführt haben. Damals zog Belgien auch überraschend ins EM-Finale ein und ließ sich nur von Horst Hrubesch am Titelgewinn hindern. Seitdem wurde die Regel etwas verändert – gleiche Höhe ist nun nicht mehr Abseits – und dank der Technik bis ins Absurde messbar und überprüfbar gemacht.
Deutschland baut auch nach Ronaldos Treffer mächtig Druck auf, die Idee, Kimmich auf rechts zu ziehen stärkt auch diesen Flügel und die Portugiesen werden nach gut einer halben Stunde kurz hintereinander zu zwei Eigentoren gezwungen.
Deutschland in vorauseilendem Gehorsam
Es ist die Abkehr vom technisch feinen, geschliffenen und hochpräzisen Fußball Löwscher Provenienz, es ist die vorzeitige Hinwendung zum Flickschen Brachialpressing, bei dem der Gegner zu Fehlern gezwungen wird. In der zweiten Hälfte schrauben Havertz und Gosens – klar der Mann des Spiels – das Ergebnis auf 4:1, ehe Löw mit seinen Auswechslungen noch ein wenig Verwirrung stiftet, prompf fällt der zweite portugiuesische Treffer, doch dabei bleibt es dann auch. Favorit Portugal geschlagen und die eigenen Hoffnungen auf das Weiterkommen genährt, so lautet das Fazit des Abends für die deutsche Nationalmannschaft.
Nach dem Spiel zeige ich meiner Tochter, wie man einen Verband anlegt, und den oben beschriebenen Scherenschnitt. Dann gehen wir raus und machen einen langen Spaziergang durch den Baumpark, wo die Freunde das Picknick zwischenzeitlich geräumt haben. Meine Tochter begeistert sich für die Fitnessgeräte im Park, ich hege die Hoffnung, dass sie nicht so bewegungsscheu wie ihre Mutter wird. Auf dem Rückweg treffen wir einige Bekannte, auch Kip, der das Picknick gut überstanden hat. Ich berichte von dem Spiel, er findet es „fair enough“, dass ich das Picknick bald wieder verlassen habe. Ein Kellner schenkt meiner Tochter ein Stück Wassermelone, ich sehe, dass Spanien gegen Ende der ersten Hälfte mit 1:0 gegen Weltfußballer Lewandowski in Führung liegt. Ich bringe meine Tochter nach Hause und schaue die zweite Halbzeit im Fraktal, in der Leandowski den Ausgleich macht und Spanien einen Elfmeter verschießt, dessen Berechtigung ich auch nach der fünften Zeitlupenwiederholung nicht erkennen kann. Ich mache die Bekanntschaft eines illustren Trios, eines nach eigenem Bekunden Balkaniers, eines Syrers und eines Inders, der zum Fußballdialog nichts beizutragen hat. Nick versucht wieder mal, durch eine Zigarettenpause die entscheidenden Szenen des Spiels zu verpassen, doch diesmal gelingt es ihm nicht, Spanien verpasst zwei dicke Möglichkeiten und spielt nur Unentschieden. Im letzten Spiel gegen die Slowakei muss ein Sieg her, sonst droht das frühzeitige Ausscheiden. Keith präsentiert mir noch eine Reihe obskurer Singles, teilweise Originale aus den 1960ern, die er gerade frisch aus den USA erhalten hat, dann beschließe ich den Abend. Das Turnier geht ja weiter.