Nachdem klar geworden ist, dass Frankreich nun doch nicht faschistisch wird, steigen natürlich die Sympathiewerte für deren Fachabteilung für Fußballferwaltung (FFF). Politisch ergibt das eine echt eigentümliche Situation. Gerade haben wir die Niederlande noch dafür gelobt, die faschistenorganisationsaffine türkische Mannschaft aus dem Turnier gekegelt zu haben, da müssen wir nach den Wahlen feststellen, dass Polderland politisch das extremste Land der verbliebenen vier Halbfinalländer ist, mit einem Rechtsaußen an der Regierungsspitze. Frankreich und England, die großen Fußball Eh-Em-Favoriten ohne Lust, Fußball zu spielen, sind in den Wahlen nach links gerückt und in Spaniens Politik kennt sich nach dem Abdanken von König Don Juan aka Carlos eh niemand aus. Sind da Links- oder Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt?
Französische Spanier und spanische Franzosen
Ach, Europa, es ist alles so kompliziert geworden. In der spanischen Nationalauswahl spielen Franzosen und in der französischen Spanier. Im deutschen Team sind Türken, im türkischen auch, nur dass die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Und so könnte man das beliebig fortsetzen und sich fragen, ob diese Nationenturniere nicht obsolet geworden sind. Ein Blick in die Vergangenheit beruhigt allerdings. Schon in den berüchtigten 1930er Jahren bestand die Hälfte der zwei Mal siegreichen italienischen Mannschaft bei den Weh-Emms aus Argentiniern. Und ein Spieler (Laszlo Kubala?) hat es auf Länderspiele für drei verschiedene Nationen gebracht. Früher war also auch nicht alles besser und einfacher, es war eben nur mehr Lametta.
Harry Potter statt Zauberlehrling
Und es gab noch keinen Video-Assi. Das ist so eine Krux mit der Technik, ist sie denn einmal eingeführt, zieht sie ihre Abseitslinien gnadenlos durch und zwei Zentimeter sind genauso klar wie 20 Meter. „Die Geister, die ich rief, werd' ich nun nicht mehr los“. (Für die jüngeren Leser: das ist ein berühmtes Gedicht von Goethe, den schreibt man genau wie den Hoeness tatsächlich mit „oe“; das Gedicht heißt „Zauberlehrling“ und hat früher jeder Schüler irgendwann mal interpretieren müssen; heute ist es auf dem Lehrplan wahrscheinlich durch „Harry Potter“ ersetzt).
Mme LePen = beleidigte Leberwurst
Also, Halbfinale zwischen Frankreich und Spanien. Frankreich weiterhin mit Mbappé als Kapitän, den Madame LePen, die verhinderte Faschistenfürstin und Putin-Stiefelputzerin, am liebsten auf die Bank gesetzt hätte. Unfair fand sie das, dass er sich vor den Wahlen gegen die Faschistenpartei ausgesprochen hat. Wie absurd kann es denn noch werden? Mbappé ist ein PoC (people of colour; im Deutschen sagte man früher „Farbiger“, doch das ist politisch nicht mehr korrekt, die englische Übersetzung hingegen schon; der Teufel kenne sich da noch aus, warum die Anspielung auf die Hautfarbe in der Fremdsprache ok, in der Muttersprache hingegen verpönt ist), wie übrigens die Mehrheit in der équipe tricolore (zu deutsch: dreifarbige (!) Mannschaft) und steht damit schon ganz natürlich auf der Gegenseite der nationalistisch, rassistisch, völkischen Gesinnung. Ja, ihr lieben faschistischen Franzosen, dann schmeißt sie doch alle raus, dann wird eure Nationalmannschaft aber nur noch Kreisklasse spielen.
„Raus! Alle raus!“
Nun denn, also Halbfinale und erstmals für dieses Turnier probiere ich das berüchtigte public viewing. Auf dem Weg zu einem Biergarten fahre ich dieselbe Strecke wie eine Woche zuvor, als ich dieses verstörende Erlebnis hatte. Ich steige also in die Straßenbahn, auch als Tram bekannt. Es ist ja Ferienzeit und man sieht viele Schülergruppen mit Lehrern, Sommerschule heißt das, habe ich gelernt, da wird wenig unterrichtet und Ausflüge werden unternommen. Da sitzt also so eine Gruppe von Elf- bis Dreizehnjährigen, die Mädchen etwas verschüchtert auf den Sitzen mit ihrer Pubertät kämpfend, ein etwas größerer Junge im angeregten Gespräch mit seinem Lehrer neben mir stehend. Die Grundsprache ist Französisch, das Thema sind die benachbarten Fremdsprachen. Der Lehrer bringt dem pausbäckigen Jungen gerade den Satz bei: „Ich habe einen dicken Pimmel.“ Dann schreit er plötzlich zackig/schneidig „raus!“ (er hat bestimmt mal einen Film über Nazis gesehen). Einige Passagiere der Tram blicken verstört hoch von ihrer Welt auf dem maximal drei mal fünf Zentimeter Bildschirm. Der Lehrer blickt entschuldigend herum und lächelt beschwichtigend. Dann hält die Tram und er schreit wieder: „Raus, alle raus!“ Es sind ja solche Spaßvögel, die Franzosen. Noch verschleiern sie ihre Absichten hinter fremden Sprachen, doch wenn sie dann mal gewonnen haben werden, dann wird die Maske fallen und geschrien wird dann wieder in der Muttersprache werden. Doch noch ist es nicht so weit, wenn sich auch Frontfrau LePen beschwert, die anderen hätten unfair gespielt – nämlich zusammen und nicht gegeneinander – und nur das den triomphe der Faschisten verhindert. Schlechte Verlierer eben, aber aufgepasst, aus denen werden keine guten Gewinner.
Schwarze Bildschirme und lange Schlangen
Gut, gut, ich fahre also zu so einer public viewing Stelle, einem Biergarten neben einer Brücke, die gerade stückweise abgerissen wird. Dabei ist das die einzige kubistische Brücke der Stadt und gehört selbstverständlich denkmalgeschützt. Ist sie irgendwie auch, aber auch baufällig. Irgendwas muss auf jeden Fall mit ihr gemacht werden, das ist seit Jahren klar. Der Biergarten befindet sich auf der „Rohan Insel“, die sich beim Blick auf die Karte als gar keine Insel herausstellt. Das Ufer mündet bestenfalls in eine Landzunge, wo auf der einen Seite eine heftige Bebauung eingesetzt hat, damit der gehobene Mittelstand gleich neben den Verwaltungspalästen der multinationalen Unternehmer wohnen kann. Zwischen Endhaltestelle der Tram, freiem Feld und Baustellen hat sich ein Biergarten mit Blick auf einen Schornstein, den Hügelkamm von Žižkov, einer Filiale einer großen deutschen Supermarktkette und dergleichen gequetscht. Schon von der Haltestelle sehe ich zwei Leinwände, auf denen die drei Tore der französischen Mannschaft in diesem Turnier ausführlich gezeigt werden, um die Zeit bis zum Anpfiff zu überbrücken. Hier bin ich also richtig und stelle mich gleich mal in eine Warteschlange vor dem Bierstand. Betrinken kann man sich hier sicherlich nicht, taxiere ich die Geschwindigkeit, mit der wir uns fortbewegen. Kurz vor der Pause sollte ich wohl dann auch etwas zu trinken bekommen und überlege, mir gleich zwei Bier zu bestellen, auf die Gefahr hin, dass eines später warm sein wird. Dann werden die Leinwände schwarz, niemanden scheint das zu stören und niemand kümmert sich darum. Zehn Minuten bis zum Anpfiff und ein Kaltgetränk noch sicher 20 Minuten entfernt. Ich verlasse die Schlange und gehe die paar Schritte zur Tramhaltestelle. Noch fünf Minuten bis zur nächsten Tram. Ich inspiziere die Bushaltestelle, das bringt auch nichts. Als dann drei Minuten vor Anpfiff - die Nationalhymnen sind schon vorbei - wieder Bilder auf den Bildschirmen flimmern, begebe ich mich zurück zur Warteschlange, die noch länger geworden ist. Auch von der Warteschlange aus kann man das Spielgeschehen verfolgen, wenn auch nicht ganz barrierefrei.
Frankreich schießt sein Tor aus dem Spiel
Ich habe mir gerade zwei Biermarken gekauft (natürlich nur mit Karte) und bin kurz vor dem Ziel, da jubelt die eine Hälfte des Biergartens. Wenigstens in der Wiederholung möchte ich das eine Tor und seine Entstehung sehen, das Frankreich aus dem Spiel heraus erzielt. Da winkt der Bierzapfer heftig und unerbittlich und signalisiert, dass ich mein Getränk abzuholen habe, und zwar unverzüglich, ohne Zögern und Entschuldigung. Mit dem Becher (Plastik) in der Hand erfahre ich irgendwann, dass Kolo Muani, der schon im Achtelfinale gegen Belgien maßgeblich am Weiterkommen beteiligt war, per Kopfball eine Flanke von Mbappé verwandelt hat. Mbappé erkenne ich auf dem Platz übrigens kaum wieder, er spielt ohne Maske, jedoch weiterhin ohne großen Drang zum Tor.
Ein Lob dem Stehplatz
Frankreich führt und meine Vermutung, dass Frankreich ins Finale einzieht, nimmt langsam Gestalt an. Ich finde einen schönen, gemütlich Stehplatz, der Blick auf die Leinwand ist etwas seitig, vielleicht sehen die Aktionen der Spieler deshalb so langsam aus. Neben, hinter und vor mir toben die Kämpfe um die Plätze auf Plastikstühlen und Holzbänken. Ich stehe abseits der Getränkebesorgungsströme, neben mir sitzen zwei junge Mädchen, die ihre Reizlosigkeit mit allerlei Schnickschnack drapieren und wenig Anteil am Geschehen auf dem grünen Rasen nehmen, die jungen Männer daneben eher schon, wenn ich sie auch zu keinem Fanlager zuordnen kann.
Spanien dreht schnell das Spiel
Ich werde dann in meinen ruhigen Beobachtungen gestört, denn Spanien schießt ein Tor. Dieser Milchbubi mit seinen 16 Lenzen schlenzt einen Ball traumhaft in den Winkel. Jubel auf spanisch, ich bin mir nicht sicher, ob der jetzt lauter als der auf französisch ist. Die erste Halbzeit ist noch nicht in ihre Endphase eingebogen, da schießt Dani Olmo das zweite Tor, wie sich noch herausstellen soll, das Siegtor. Einen Abpraller nimmt er schön herunter, legt ihn mit der zweiten Berührung auf einen günstigeren Schusswinkel vor und schließt volley ab. Ein französisches Abwehrbein kann den Flugweg der Kugel ins Tor nur noch besiegeln, nicht mehr verhindern. Kurz danach spaziert Williams, der Wunderdribbler vom linken Flügel, auf Höhe des Sechzehnmeters durch die französischen Linien, legt ab und das Dribbling des Mitspielers wird gerade so noch geblockt. Frankreichs Betonabwehr zeigt deutliche Risse. Noch vor der Pause begebe ich mich wieder in die Warteschlange um meine Vorräte aufzufüllen, als ich an meinen Stehplatz zurückkomme, findet ein Wechsel in der Plastikstuhlbesetzung statt, neben mir sitzt jetzt eine spanische Gruppe.
Warten auf den französischen Sturm
Ja, die zweite Hälfte, ich warte und warte und frage mich, wann Frankreich denn nun mit dem Pressing beginnt. Deutschland stand ja im Viertelfinale in einer ähnlichen Situation und konnte das Spielgeschehen durch Auswechslungen und Taktikänderungen deutlich verändern. Deutschland erzielte dann auch noch den Ausgleich und hatte Chancen auf den Siegtreffer, den Havertz und der Schiedsrichter verhinderten.
Spanien sucht auch in den bedrängtesten Situationen spielerische Lösungen, die meist auch gelingen, doch auch diesmal streuen der Torwart und ein Vorstopper horrende Fehlpässe ein, die jedoch unbestraft bleiben. So plätschert das Spiel dahin, Frankreich müsste etwas machen, weiß aber anscheinend nicht wie. Die équipe spielt im Verwaltungsmodus „kontrolliert offensiv“, aber ohne ésprit, ohne verve und vor allem ohne idée. Das erinnert mich stark an die Spiel Deutschland – Spanien 2008 (Eh-Em Finale) und 2010 (Weh-Emm Halbfinale). Man wollte, aber man konnte nicht, weil man auch so selten den Ball bekam. Deutschland ist mit dem Gegengift gegen das spanische Ballmonopol mittlerweile deutlich weiter als Frankreich derzeit.
Damit ist das Albtraumfinale Frankreich – England geplatzt und es besteht durchaus die Chance, das eine Mannschaft Fußball Europameister wird, die Lust auf Fußball hat. Übrigens bin ich mir sicher, dass ich das zweite Halbfinale nicht in diesem Biergarten sehen werde. Ich halte es für recht ausgeschlossen, dass ich mir an diesem Ort das englische Trauerspiel schöntrinken kann.