Gleich vorweg. Ich habe noch niemals in meinem Leben Deutschland in einem Spiel verlieren sehen und war anschließend dermaßen euphorisiert. Das liegt nicht nur an dem unglaublichen Essen, das ich zuvor eingenommen habe. Oder daran, dass ich in einem Gewaltmarsch meine Wohnung am Vortag auf Vordermann gebracht habe, ehe ich das erste Halbfinale angeschaut habe. Sondern natürlich an der Art und Weise, wie dieses Spiel der Spiele lief.
Deutsche Erdbeeren sind gut
Nun, morgens fing der Tag an aus dem Ruder zu laufen. Ich versuche meiner Arbeit nachzugehen, doch meine Arbeit scheint vor mir auszuweichen. Mit Mühe schaffe ich es, von meinem ersten Klienten empfangen zu werden. Anschließend kaufe ich mancherlei und auch wieder Erdbeeren. Ich frage extra, denn sonstwo sind die Erdbeerverkäufer verschwunden. Nein, tschechische Erdbeeren gibt es wohl nicht mehr, was ich erwerben kann, sind deutsche Erdbeeren. Und das stellt sich als durchaus gute Wahl heraus. Zuhause koche ich eine Bolognese mit einem Kilo Hackfleisch. Die muss eine Zeit lang auf dem Herd stehen, damit dort Geschmack dran kommt. Der Nachmittag geht zur Neige, ich kann mich wirklich nicht groß auf irgendwas konzentrieren, bis die Nachrichten einlaufen. Einmal ist public viewing abgesagt, ein andermal angesagt. Ich begebe mich furchtlos in die Höhle des Löwen, in das vollbesetzte Rieger-Park-Stadion inmitten von Franzosen.
Böhmisches Bierzapfdilemma
Oh, was für ein Beginn. Ich warte und warte und stelle zum wiederholten Male fest, dass Tschechen vollkommen unfähig sind, bei Großereignissen einen Bierstand zu betreuen. Immer wieder bestätigt sich für mich die Erfahrung, dass sie gemütlich eins nach dem anderen zapfen, egal, ob da drei oder dreihundert Kunden warten. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wieso dort niemand darauf kommt, moderne Arbeitsteilung zu betreiben. Aber was heißt schon modern, die Moderne hat im späten 19. Jahrhundert begonnen, also vor 120 bis 150 Jahren. In Deutschland würde jemand die Becher anzapfen, das heißt, viele Becher, ein Zweiter gibt den entscheidenden Schuss aus dem Fass hinzu und kassiert. Das erhöht die Verkaufsgeschwindigkeit mindestens um 100%. Aber solch eine Innovation ist in Böhmen schlichtweg unmöglich. Wie sollte sie auch, denn kein einziger Böhme hätte die Chance, bei derlei Verhalten in Deutschland bei einem Großereignis zu volontieren.
Schweinsteiger und Can
Na ja, bis zum Anpfiff bekomme ich meine drei Bier, die ich hübsch verteile und das Spiel beginnt wie immer mit der Nationalhymne, die von den anwesenden Franzosen inbrünstig geschmettert wird. Wir Deutschen sind da eher zurückhaltend, was kein Fehler sein muss, aber auch als mangelnder Patriotismus ausgelegt werden kann. Löw hat sich eine interessante Variante ausgedacht, auf die Frage nach dem defensiven Mittelfeld antwortet er, Schweinsteiger und Can für die verletzten Khedira und Schweinsteiger. Jawohl, Schweinsteiger ersetzt sich selbst in seinem mutmaßlich letzten Länderspiel. Erst verletzt gemeldet, steht er auf dem Platz und spielt die entscheidende Rolle in diesem Spiel. Wäre er doch auf der Bank geblieben! Oder wo auch immer.
Die Franzosen beginnen mit einer Überrumpelungstaktik und gleich hat Griezmann eine Chance, die er noch nicht nutzen kann. Nach etwa zehn Minuten beginnt eine Monsterhalbzeit des deutschen Teams. Es zieht einfach ein Pressing auf, das Frankreich 30 Meter vor dem eigenen Kasten einschnürt. Zwangsläufig ergeben sich einige kleinere Chancen und Torraumszenen. Mehr als eine halbe Stunde monopolisiert Deutschland den Ball, sobald Frankreich mal dazwischen schlägt, erfolgt sofort die Rückeroberung. Wahnsinn in einem Spiel auf solchem Niveau.
Schweinsteigers Wichsgriffel
Ganz gegen Ende der ersten Halbzeit erkämpft Frankreich einen unnötigen Eckball, weil Jonas Hector nach einer Flanke auf Nummer Sicher geht. Der Ball fliegt in den Strafraum und nach undurchsichtigen zehn Sekunden entscheidet der Schiedsrichter auf Elfmeter. Handspiel Schweinsteiger, nicht so spektakulär wie Boateng im Spiel zuvor gegen Italien, aber mindestens genauso unnötig. Ach, würde der gute, alte Kaiser Franz noch leben – aber er lebt ja noch, trotz aller Anfeindungen und Korruptionsverdächtigungen – er hätte ihnen einfach gesagt, geht’s hinaus, spielt Fußball und haltet die Hände unten. Unfassbar, was Schweinsteiger dort mit seiner Hand wollte, aber er beschert Deutschland für die zweite Halbzeit das Handicap, denn Griezmann verwandelt sicher und der italienische Schiedsrichter winkt umgehend zum Pausentee.
Da bist du selbst als Jogi Löw vollkommen machtlos. In Hälfte zwei sieht man ihn leiden, denn nach den Ausfällen von Khedira, Hummels und Gomez verlässt auch sein bester Boateng nach ca. einer Stunde das Geläuf. Ohne Einwirkung des Gegners ist er wohl umgeknickt, statt seiner kommt Mustafi. Aber der deutsche Ballbesitzwahnsinn geht ja weiter, am Ende stehen 65% gegen 35%. Der geht so weit, dass die Mannschaft versucht, im eigenen Strafraum klein klein zu spielen. Das geht schief, als dann Neuer die daraus entstehende Flanke nur halbherzig abwehren kann, fällt Griezmann der Ball vor die Füße und von dort rollt er ins Tor. Wenn das kein gefühltes Eigentor war, dann weiß ich nicht, was ein gefühltes Eigentor ist. Vorbei, denkt man sich, so wie ich es in der Pause vorhergesagt habe. Nämlich dass es einen wilden Kampf geben wird und Frankreich einen Konter zum zweiten Tor einnetzt und aus die Maus.
Chancen über Chancen
Natürlich jubeln alle Franzosen um mich herum und ich schüttele nur den Kopf. Wir kann man sich nur selbst auf solche Art schlagen. Das ist schlichtweg unglaublich. Die beiden ersten Gegentore kassiert Deutschland aus unglaublich notwendigen, ja geradezu zwangsläufigen Handelfmetern, herausgeholt von den Routiniers Boateng und Schweinsteiger. Unfassbar, mit anderen Worten kann man das nicht erklären, was sich auf dem Grün abgespielt hat. Und das dritte Gegentor ist nochmals ein aus dem Spiel heraus verschärfte Nummer an der Lust am eigenen Untergang. Es ist genauso grotesk wie die Chancen, die Italien gegen Irland zugelassen hat, um den Gegner endlich zu bitten, das Tor zu machen.
Als alles verloren ist, spielt Deutschland groß auf. Zuvor hat die Mannschaft bereits das Spiel klar dominiert, doch dann folgt Chance um Chance in der letzten Viertelstunde. Kimmich ans Lattenkreuz, gleich nach dem zweiten Gegentor, später pariert Lloris reaktionsschnell einen Kimmich-Kopfball. Leroy Sané mit seiner ersten Ballberührung knapp vorbei, Goetze mit Köpfchen knapp vorbei, Mustafi mit Wucht drüber, Höwedes mit Wucht und Kopf knapp drüber, Draxler nach Freistoß knapp vorbei. Deutschland produziert Torraumszenen im Minutentakt, aber der Ball will nicht mehr hinein. Ein wirklich absurdes Spiel geht mit Zweizunull für Frankreich zu Ende, in dem Deutschland vor allem eines geschafft hat. Sich auf grandiose Art und Weise selbst zu besiegen.
Schmaler Grat zwischen Zukunft und Vergangenheit
Bei Deutschland hat man bereits die Zukunft gesehen. Kimmich, Sané, Draxler, auch Goetze, wenn er wieder beständig spielen darf. Emre Can, der auf der Bank belassene Weigl, ebenso der nicht eingesetzte Tah. Das ist das Gerüst für die Zukunft. Schweinsteiger sollte nach diesem Spiel endgültig abtreten. Bei anderen Spielern sieht man, wie der Körper nach all den Belastungen sich verweigert. Das sind Gomez, der nie besser war als in diesem Turnier, Khedira mit seinem unbarmherzigen Spielstil, der ihn aber immer wieder zu Pausen zwingt. Müller, dem man endlich mal eine harmlose Verletzung gönnt, die ihm eine mindestens sechswöchige Auszeit vom Fußball beschert, um endlich mal abschalten zu können. Müller fing vor sieben Jahren mit dem professionellen Fußballspielen unter Luis van Gal bei Bayern an und hat seitdem keine Pause mehr gemacht. In diesem Turnier hat man ihn ohne jegliche Inspiration gesehen, ohne wirkliche Torgefahr, ein Schatten seiner selbst, treu und brav seine Arbeit verrichtend, aber ohne Fortune, schlichtweg ausgebrannt. Oder Özil, der Vielspieler. Ihm würde man auch endlich mal eine längere Pause gönnen, einfach nur zum Abschalten. Und Toni Kroos, etwas jünger, aber in der gleichen Top-Fußball-Maschinerie eingebunden, ihn wird wohl das gleiche Schicksal in ein, zwei Jahren erleiden, er wird völlig überspielt sein.
Cristiano Ronaldos Turnier?
Nun gut, Deutschland ist im Halbfinale ausgeschieden und Frankreich muss jetzt den Deckel auf den Topf tun, das gegen Cristiano Ronaldos Portugiesen. Und das mit einer zwar guten Offensive, aber mit einer höchst fragwürdigen Defensive. Denn die Vielzahl an deutschen Torchancen gegen Ende des Spiels, als Deutschland quasi ohne Stürmer gespielt hat, werfen doch erhebliche Fragen auf. Nun ja, nach einer turbulenten Nacht mit der Bezähmung von Wahnsinnsausbrüchen – nicht meinerseits, wohlgemerkt – kann ich wenigstens tiefenentspannt dem Turnierende entgegensehen. Möge es Frankreich gewinnen. Oder vielleicht Portugal und möge der allseits gehasste Ronaldo seinen internationalen Titel gewinnen. Den hat er dann Messi voraus, der vielleicht doch noch einmal über seinen Rücktritt vom argentinischen Nationalteam nachdenken wird. In den Knast muss er ja nicht, der Steuersünder. Er und sein finanzberatender Vater müssen bloß zwei, drei Millionen Strafe zahlen. Aus der Portokasse, sozusagen.