Wahnsinn, dieser dritte Spieltag des Achtelfinales! Dies ist das 22, Turnier, das ich bewusst verfolge, doch so etwas habe ich noch nie erlebt. Vier Stunden netto Fußball, nimmt man die ganzen Nachspielzeiten hinzu, kommt sicherlich nochmals eine Viertelstunde hinzu. 14 Tore plus ein Elfmeterschießen, ein verschossener Elfmeter in der normalen Spielzeit, ein katastrophales Eigentor, ein Ausgleich in der Nachspielzeit, Spannung und Dramatik pur, dabei sind beide Spiele überaus fair – natürlich gibt es auch Fouls, doch meistens im Kampf um den Ball. Wer danach sein Herz nicht für den Fußball gewinnt, der hat keines.
Wie soll man das alles schildern? Nun, ich verbringe die erste Halbzeit mit der Schülerin Kleinball und spreche über Konjunktiv I und II, die indirekte Rede und derlei Nebensächlichkeiten, wieder mit Blick über den Busbahnhof auf das Mausoleum, eines der scheußlichsten Gebäude der Welt, wie ich in der Straßenbahn mithören durfte. Ja, es stimmt, es ist viel umbauter leerer Raum, die Ästhetik des Stalinismus. Käse-Gael ruft mich an, ich muss ihm bescheiden, dass ich nicht kann. Später versuche ich ihn anzurufen, aber erfolglos.
Über goldene und silberne Tore
Ich eile anschließend in eine Pilsener Bierstube in der Nähe des Platzes der Republik. Bei meinem Eintritt markiert Spanien das 2:1. Die Gespräche der Gäste drehen sich um hundert Tausende, dann Millionen und Milliarden. Spanien pflegt weitgehend unbeachtet von den Gästen ein feines Passspiel, Kroatien wiederum kommt mehr über Einzelaktionen und gewonnene Zweikämpfe. Als Spanien zum 3:1 vorlegt, denke ich, es ist aus, habe aber noch ein wenig Hoffnung und bestelle ein weiteres großes Bier. Das ist das Zeichen für die Aufholjagd, Kroatien kommt tatsächlich nochmals zurück, schafft den Anschlusstreffer und in der Nachspielzeit sogar den Ausgleich! Der Wirt belehrt: „In der Verlängerung wird durchgespielt, es gibt kein vorzeitiges Ende mehr, das haben wir mitgemacht, gegen Deutschland und Griechenland so verloren.“ Ja, lange ist es her, 1996, das goldene Tor von Bierhoff im Finale zwischen Deutschland und Tschechien, 2004, das silberne Tor von Charisteas im Halbfinale zwischen Griechenland und Tschechien. Jetzt, 25 bzw. 17 Jahre später ist das auch aufgeklärt, diese Übernahmen aus dem Eishockey sind längst wieder abgeschafft. Na ja, Tschechien hat schon lange keine Verlängerung mehr gespielt, woher soll das Wissen auch kommen?
Kramarić versagt vor dem Tor
Nun, die Verlängerung beginnt mit einer Großchance von Kramarić, vergeben. Wenig später geht Spanien nach einem Abwehrfehler wieder in Führung, der kroatische Verteidiger verschätzt sich bei einem weiten, hohen Ball völlig, ist schlicht einen halben Meter zu klein, um den Ball wegzuköpfen, der Gegenspieler im Rücken bedankt sich, nimmt den Ball an und vollendet. Wieder laufen die Kroaten einem Rückstand hinterher, wieder hat Kramarić eine Chance, wieder vergibt er. Ich denke, er wird in der kommenden Saison weiterhin in Hoffenheim bleiben. Spanien setzt noch in der ersten Hälfte der Verlängerung einen drauf. „5:3, das ist ja ein Ergebnis wie im Eishockey“, höre ich einen anerkennenden Kommentar vom Nachbartisch. Kroatien und Spanien wechseln die Seiten, gleich hat Kroatien wieder eine Riesenchance, knapp vorbei. Das war es dann, man kann es deutlich auf dem Platz sehen, der Widerstand ist gebrochen, der Tank leer, die Luft raus. Auch Modrić lässt sich auswechseln, ein Zeichen, das er das Zepter an die junge Generation weitergibt. Spanien lässt Gegner und Ball laufen und noch zwei dicke Chancen liegen und zieht nach diesem epischen Spiel ins Viertelfinale ein, dort wartet der Gewinner von Frankreich gegen die Schweiz. Ich bin mir sicher, dass dieses Spiel in die kroatische Sportgeschichte eingehen wird, ähnlich wie das 3:4 nach Verlängerung im Halbfinale der WM 1970 zwischen West-Deutschland und Italien in die deutsche. Noch Jahrzehnte später wird man diese Niederlage als einen Meilenstein für den unbezähmbaren Willen der Kroaten betrachten, die einfach nicht aufgeben, bis es nicht mehr geht. Hut ab!
Niemand säuft auf meine Rechnung
Ich eile zurück nach Prag 7, streite mit der Mutter meiner Tochter, die mir die geschuldeten 90 Kronen für den am Vortag erschlichenen Schnaps nicht ersetzen möchte, gehe ins Fraktal und stelle kurz fest, dass die Schweiz mit 1:0 führt, dann habe ich ein Wort mit Fred, dem Besitzer, und mache klar, dass diese Frau nie wieder auf meine Rechnung saufen kann. Wenn sie schon saufen muss, dann auf eigene Rechnung, nicht auf meine. Fred ist erst etwas ungehalten über meinen Ärger, kommt aber danach an meinen Tisch und zeigt Einsicht. Ich will das auch gar nicht endlos diskutieren, sondern nur, dass das klar ist. Ich denke, das sollte überhaupt klar sein, wer bestellt, bezahlt, außer jemand anderes übernimmt das ausdrücklich.
Nun kann ich mich dem Fußball widmen, sehe in der Halbzeitpause den verpatzten Patzer des spanischen Torwarts, der einen Rückpass über den Fuß rollen lässt, sowie die anderen sieben Tore des ersten Spiels.
Benzema dreht in wenigen Minuten das Spiel
Frankreich muss sich in der zweiten Halbzeit ordentlich zusammenreißen, was ich bis dato gesehen habe, ist wenig überzeugend. Ein paar Minuten sind nach Wiederanpfiff vergangen, da überschlagen sich die Ereignisse. Nach Überprüfung des Video-Assis bekommt die Schweiz einen Elfmeter zugesprochen. Rodriguez läuft an, schießt nach unten links, aber Lloris hält. Damit nicht genug, einige Minuten später dreht Benzema mit einem Doppelschlag das Spiel, statt 2:0 vorne plötzlich 1:2 hinten. Die Gesichter der Schweizer Fans werden lang, länger, am längsten, mit dem 3:1 scheint die Sache entschieden. Die Schweizer brauchen eine Weile, um das zu verdauen, doch schaffen nach Flanke von links per Kopfball den Anschlusstreffer. Mit geschätzter Nachspielzeit bleiben ihnen nach knappe zehn Minuten für den Ausgleich. Und der fällt, sogar noch vor der 90. Minute. Das Fraktal verwandelt sich in ein Tollhaus, genau wie die französische Abwehr zuvor.
Katastrophales Abwehrverhalten
Unglaublich, welches Loch sie in der Mitte offen lassen, obwohl sie nur zu mauern und den Vorsprung zu verteidigen brauchen. Ein flacher Pass in die Tiefe reicht, der Schweizer Spieler ist frei durch, lässt durch eine Körpertäuschung noch einen herbeigeeilten französischen Verteidiger aussteigen und vollendet flach in die lange Ecke. Ausgleich, 3:3. Frankreich versucht zwar noch wütend zu antworten, doch es geht in die Verlängerung.
Während der fällt der Satellit minutenlang aus, das erinnert mich an das Endspiel 2000, als wir weite Strecken der zweiten Hälfte ohne Bild, aber immerhin mit Ton auskommen musste, bis der Projektor, überfordert von den dichten Rauchschwaden im Wakata, seine Arbeit wieder aufnehmen wollte. Auch damals gab es ein goldenes Tor, Trezeguet, zuvor markierte Wiltord mit der allerletzten Aktion der normalen Spielzeit den glücklichen Ausgleich. Damals hatte Frankreich das bessere Ende für sich. Wir schauen über Video auf einem Smartphone weiter, dann stellt Erdbeer-Nick sein Tablet auf, irgendwann funktioniert der Satellit wieder, wir haben nun drei Informationsquellen, die mit einer ihnen inhärenten Zeitverzögerung arbeiten.
Mbappé scheitert, Frankreich auch
Giroud kommt irgendwann für Benzema, Frankreich ist bemüht, aber glücklos, das Elfmeterschießen muss entscheiden. Und dort entscheidet der letzte Elfmeter, nachdem alle recht sicher getroffen haben, scheitert Mbappé an Yann Sommer. Der Elfmeter war nicht schlecht geschossen, aber auch nicht gut genug, halb hoch in die vom Torwart aus rechte Ecke. Sommer ahnt die Ecke und bekommt beim Hechtsprung den linken Arm rechtzeitig hoch, um den Ball abzuwehren, Frankreich ist draußen, das ist eine dicke Überraschung. Damit sind schon drei Halbfinalisten der letzten EM im Achtelfinale ausgeschieden, Deutschland kann sich dem noch anschließen. Diese EM steckt voller Überraschungen, die Hierarchien im Fußball werden umgestoßen, vielleicht sollte man das Turnier in Zukunft in ungeraden Jahren austragen.
Ein letztes Wort zum Favoriten Frankreich, vier Spiele, drei Unentschieden mit steigender Anzahl von Gegentoren, 0,1,2,3. Der einzige Sieg dank eines Eigentors (Mats Hummels) lauten die ernüchternden Fakten. Das Turnier ist vorüber, bevor Frankreich richtig ins Rollen kommt. Wird der Trainer das überleben? (Natürlich nur auf seinem Posten, nicht physisch)