Alle sahen ein mitreißendes Finale, gar das beste Finale aller Zeiten. In Wirklichkeit war die Angelegenheit aber über eineinhalb Stunden (inklusive Nachspielzeit 1. Halbzeit) recht einseitig. Erst danach wurde es rasant.
Finaltag – bis zum Anpfiff um 16h mitteleuropäischer Winterzeit hatte ich keine ruhige Minute – also auch keinen Grund, nervös zu werden. Morgens weckte mich meine Tochter mit der bedauerlichen Bemerkung, sie habe ins Bett gepinkelt. Das ist ihr schon länger nicht mehr passiert und auch nicht so schlimm, leider hatte sie aber in meinem Bett übernachtet. Das setzte eine Kette von Handlungen in Gang, die Hygiene von Bettwäsche und Mensch wieder herzustellen, außerdem für das leibliche Wohl zu sorgen und mündete darin, dass ich mir die WM-Frisur zulegte. Früher hatten argentinische Nationalspieler lange, schwarze Locken, 2022 hat sich die windschnittige Variante durchgesetzt. Eine knappe Stunde vor Anpfiff, ich hetze in den Supermarkt meinen Glühweinvorrat für das Spiel zu besorgen. WM im Winter im Wohnzimmer am Laptop mit Glühwein – Fußballherz, was willst du mehr? Auf dem Rückweg prüfte ich mögliche Optionen für public viewing, die Punk-Kaschemme war noch geschlossen, die Bar, benannt nach einem amerikanischen Schriftsteller, der mit Vorliebe über Suff, Sex und andere Sauereien schrieb, war ebenfalls dicht verrammelt. Ich ging also erst mal nach Hause, machte meine Suppe warm und reicherte die erste Hälfte damit an.
Suppe und Glühwein zum Aufwärmen
Das Spiel war so, wie man es erwarten konnte, Frankreich spielte mal wieder toter Mann und Argentinien übernahm die Initiative. Einer dieser Elfmeter, die man früher niemals und erst recht nicht in einem WM-Finale gepfiffen hätte, öffnete nach nicht einmal einer halben Stunde das Spiel. Messi schickte Lloris in die falsche Ecke, es stand 1:0. Wie würde Frankreich nun reagieren? Überhaupt nicht, denn di Maria erhöhte nach einem wunderschönen Konter nach einer abgefangenen Standardsituation Frankreichs. Vom eigenen Sechzehner ging es nach ein paar direkten Pässen, einen davon spielte natürlich Messi, flott vors und ins Tor von Lloris.
Giroud und Dembelé runter
Frankreichs Trainer Deschamps fiel die Kinnlade runter, er schaute sich das Treiben seiner équipe nicht mehr länger an und nahm noch vor der Halbzeit seinen Sturm vom Feld, für Giroud und Dembelé kamen die in der Bundesliga gestählten Thuram (Mönchengladbach) und Muani (Frankfurt). Ja, der Deschamps weiß die deutsche Wertarbeit in der obersten Profiliga noch zu schätzen, da muss man nicht unbedingt bei Hochglanz München oder Abglanz Dortmund spielen, um zu nationalen Ehren aufzusteigen. Auch ein WM-Finale ist nur ein Fußballspiel.
Auf in Fred's Bar
Halbzeit, ich hechte in die Wanderschuhe, die ich mit einer Lammfelleinlage extra winterfest gemacht habe, und hetze in Fred's Bar. Und schwöre mir auf dem Weg, dass ich den Laden nicht betreten werde, sollte dort wieder Radio Jason sitzen. Der saß zwar auch dort, aber etwas beiseite gedrängt und auf geringere Lautstärke gestellt. Tatsächlich nahmen dort mehr als ein halbes Dutzend Fußballinteressierte aus meist anglophonen oder anglophilen Ländern ihre Plätze nach der Rauchpause wieder ein. Ich passte mich sprachlich an und fieberte mit Argentinien, zum ehrlich, Hand auf's Herz, allerersten Mal in meinem Leben. Nebenher erfuhr ich noch so manche Neuigkeit aus dem Leben meiner Bekannten, die ich das ganze Jahr kaum mal gesehen hatte. Wohnungswechsel, neue Freundinnen, verlorene Jobs, was eben so wirklich wichtig ist im Leben, nicht nur diese lahme Kickerei im fernen Qatar bei angenehmen Außentemperaturen, die Frankreich lange völlig uninspiriert ließen. Doch Argentinien machte nur noch sporadisch etwas nach vorne.
Mbappé macht Finale blitzschnell wieder scharf
Ich hatte von Glühwein auf Bier umgestellt und nippte noch an meinem ersten Glas, und hoffte, mit zwei Bier davon zu kommen, es liefen ja schon die 80er, also an der Uhr, nicht in Radio Jason, da gab es wieder so einen Elfmeter, der in früheren Zeiten nie im Leben, erst recht nicht in einem WM-Finale gepfiffen worden wäre (ok, wenn man vom Strafstoß 1990 mal absieht). Mbappé zeigte, dass er auch ein sicherer Elfmeterschütze war, das durfte er noch zwei Mal wiederholen, jedes Mal hatte der Torhüter keine Chance. Den Gauchos vom Silberfluss und von der Pampa rutschte dann wohl das Herz in die Hose, denn sie machten hinten etwas zu weit auf, als Messi mal ein Dribbling im Mittelfeld verlor, und schon zappelte der Ball zum Ausgleich im Netz – natürlich Mbappé. Dank der vielen Minuten obendrauf gab es dann sogar noch Zeit, die Sache in der regulären Spielzeit zu beenden, Chancen gab es auf beiden Seiten, doch auch ich wollte jetzt in die Verlängerung und ein weiteres Bier.
Rauchen schadet dem Finalgenuss
Alle, also fast alle rannten nach Abpfiff raus zum Rauchen und kamen alle zu spät zurück. Zu ihrem Glück geschah nichts Wesentliches im weiten Rund auf dem hellen Grün, doch Argentinien wurde wieder aktiver und Frankreich passiver. Das erinnerte an das Achtelfinale zwischen den Niederlanden und eben Argentinien, als die Männer aus dem Tiefland das Momentum verpassten, den Bock endgültig umzustoßen. Das Spiel wurde immer spannender, mein Bierkonsum entsprechend schneller und Messi hatte noch ein Ass im Ärmel, diesmal einen Abstauber zur erneuten Führung.
L'équipe ist ein schlechter Verlierer
Ein irreguläres Tor, wie das französische Fachblatt L'équipe anderntags bewies, irgendjemand soll zum Zeitpunkt, als der Ball die Linie überschritten hat, auf dem Spielfeld gestanden haben, zwar fern ab vom Geschehen, doch was Recht ist, muss Recht bleiben.
Ja, die Franzosen und speziell L'équipe, sie scheinen mir keine guten Verlierer zu sein. 2006 sprach eben L'équipe Zinedine Zidane montags nach dem Finale das Franzosentum ab, um sich ab Dienstag eine Woche lang dafür zu entschuldigen. Auch vor vier Jahren herrschte hysterisches Geschreie, als Perisić der Ball unglücklich an die Hand sprang, bis der Schiedsrichter diesen völlig idiotischen Elfmeter gab. Nun sind es argentinische Ersatzspieler, weit ab vom Geschehen.
Noch so ein Elfmeter, den es früher...
Nun, Frankreich bekam dann doch noch den Ausgleich geschenkt, diesmal ein Handelfmeter, den früher usw. Bis zum Elfmeterschießen gab es noch einige Aufreger, Muani schoss völlig frei den Torwart an, das war die Parade dieses Turniers (Originalton Fred). Dann ging es ins Elfmeterschießen, wo die beiden Stars Mbappé und Messi als erste schossen und trafen. Und dann war es aus mit Frankreichs Herrlichkeit, einen Elfmeter hielt der Torwart, einen schoss der Spieler am Tor vorbei, die Argentinier trafen, Messi wurde Weltmeister und ist es immer noch.
Trostpreise hässlicher, als hässlich
Ich blieb noch und schaute mir diese völlig kranke und bescheuerte Preisverleihung an. Praktischerweise wurden nur Finalteilnehmer zum besten Torwart, Jungprofi, Torschützen und Spieler des Turniers gewählt, die waren ja alle noch da. Argentiniens Torwart bekam eine besonders hässliche Trophäe, einen vergoldeten Arbeitshandschuh mit weit ausgestrecktem Daumen. Erst hielt er sich das Ding vors Gemächte und deutet mit eindeutigen Hüftbewegungen an, wonach es ihm gleich nach dem Spiel gelüstete, dann saugte er noch an dem Daumen, also, wenn das mal kein eindeutiges Bekenntnis war. Uns, der geballten Fußballkompetenz in Fred's Bar, entging das natürlich nicht und es hagelte Kommentare zu der Aktion, Messi ein Gewand umzuhängen, das uns promiskuitiv verdorbene Europäer an ein Negligée erinnerte. Irgendwann war auch dieser, der peinlichste Teil der WM abgefeiert, erstaunlicherweise war es noch keine 21h, als ich dann nach Hause ging.