Prag - Ich gehe in den Rieger-Park. Zum ersten Mal nach vier Jahren sehe ich dort wieder Fußball. Trotz der langen Zeit benötige ich keine Minute, um mich zu orientieren. Ich finde auch gleich die knorrige Linde wieder, an der ich mich einst so gerne angelehnt habe. Sie steht etwa in der Position, von der Arjen Robben bei Bayern München so gerne in den Strafraum eindringt, von rechts kommend, nach innen ziehend und dann mit links den Abschluss suchend. Im niederländischen Team spielt er aber eine andere Rolle.
Italien ökonomisch
Italien spielt gegen Costa Rica und ganz England fiebert mit. Mach’s noch ein Mal, Andrea. Der Biergarten ist gut gefüllt, hinter mir sitzt eine Truppe Jungschweizer und unterhält sich in jener merkwürdigen Krächzsprache, die angeblich meine Muttersprache als Grundlage nimmt. Sie lachen über Fehler ihres südlichen Nachbarn und freuen sich, als Balotelli in seiner unnachahmlichen Art zwei gute Chancen vergibt. Taktisch spielt die Squadra Azzurra wieder mit langen Pässen aus dem Nichts, bei Sonnenschein auf der Großleinwand nicht einmal in der Zeitlupe zu erkennen und für die Costa-Ricanische Abwehr um so schwerer zu verteidigen. Ganz England sieht zu und hofft, kurz vor dem Pausenpfiff ein einziger Aufschrei, Flanke, Kopfball, Latte, Torlinientechnik. Das Häuflein Costa Ricaner springt ekstatisch auf, eine Zierliche mit langen schwarzen Haaren tut sich dabei besonders hervor. Ich stelle überrascht fest, wie große Hände sie hat.
Vergebliches Werben
Taktisch spielt die Squadra Azzurra wieder mit langen Pässen aus dem Nichts, bei Sonnenschein auf der Großleinwand nicht einmal in der Zeitlupe zu erkennen und für die Costa-Ricanische Abwehr um so schwerer zu verteidigen.
Was macht Italien in der zweiten Hälfte? Ein Fan mit italienischer Fahne versucht, die Zierliche darin einzuwickeln. Sie lässt sich zwar fotografieren, sie trägt die Costa Ricanischen Farben auf dem Leib und die Fahne geschminkt auf der Wange (sieht aus wie die niederländische Fahne zwei Mal untereinander, als würde sie vor einem Spiegel liegen), lehnt das unsittliche Angebot aber ab. Ich stelle dabei fest, dass sie nicht nur erstaunlich große Hände hat.
Pirlo hat sofort berechnet, dass es eigentlich egal ist, ob Italien einsnull verliert oder noch den Ausgleich schafft, selbst ein Sieg würde noch keine Klarheit schaffen. Die Mannschaft verwaltet den knappen Rückstand bis zum Schluss, wiegt Costa Rica dadurch in Sicherheit, das wiederum nur äußerst selten das italienische Tor bedrängt. Das spart entscheidende Kraft für das nächste (vielleicht auch letzte) Spiel. Das Häuflein Costa Ricaner feiert ausgelassen, ihre Mannschaft ist durch und hat noch ein Vorbereitungsspiel gegen England zu absolvieren, ehe es im Achtelfinale wieder ernst wird. Die Italiener im Park nehmen es gelassen, es ist wie stets alles drin für die eigene Mannschaft: vom Ausscheiden in der Gruppe bis zum glorreichen Finaleinzug. England hingegen ist ausgeschieden. Die Schweizer am hinteren Tisch freuen sich auf’s nächste Spiel.
Schmetternde Nationalhymnen
Pünktlich zum Anpfiff marschiert die Fremdenlegion in den Rieger-Park ein und übernimmt die Oberherrschaft, kenntlich an den roten Barrets. Die Nationalhymne wird extra laut gestellt und wer nicht mitsingt, ist kein Franzose. Die Schweizer, auch der welchen Sprache mächtig, machen sich einen Spaß und schmettern beim Allons enfants de la patrié, le jour de gloire est arrivé mit und verweisen auf ihre Neutralität. Sie sind so neutral, dass ihnen der zunehmend größer werdende Rückstand gegen Frankreich nichts ausmacht. Während die Franzosen wieder und wieder die Köpfe rollen lassen und das Feld mit dem Blut der Feinde tränken – musikalisch handelt es sich um eine Hymne und hört sich besser an als es aussehen mag – halten sie dagegen: mir sin mit dem Velo da.
Freundschaftliches Spielchen
Das letzte, was ich sehe, ist eine Großaufnahme des Referees, wie er den Kopf schüttelt. Den Schweizern scheint’s egal, sie haben sich ihr Torverhältnis eh versaut und sollten im letzten Spiel dann wohl besser gewinnen. Gegen Honduras. Das scheint machbar.
Nach dem Fünfnull dürfen die Schweizer auch noch zwei Mal, dann macht Benzema mit dem Schlusspfiff noch ein Tor, von dem ich bis heute nicht weiß, ob der Schiedsrichter es anerkannt hat oder das Spiel zuvor abgepfiffen. Das letzte, was ich sehe, ist eine Großaufnahme des Referees, wie er den Kopf schüttelt. Den Schweizern scheint’s egal, sie haben sich ihr Torverhältnis eh versaut und sollten im letzten Spiel dann wohl besser gewinnen. Gegen Honduras. Das scheint machbar.
Was aber ist mit Frankreich? Ich rästele über dessen wahre Stärke. Didier Deschamps, der Kopf hinter dem Erfolg vor 16 Jahren, scheint ohne Ribery eine Truppe geformt zu haben. Auch wenn Benzema gegen die Schweiz einen Elfmeter verschießt und jemand den Nachschuss frei ans Gebälk zimmert statt ins Netz setzt, nutzen sie effizient ihre Chancen, haben beide Spiele früh entschieden und dann rationell heruntergespielt. Bis hierher sieht das ganz gut aus, mal sehen, wenn die Blauen auf starke Gegner treffen, die bisherigen acht oder neun Tore sind da kein Maßstab. Das Weiterkommen ist so gut wie sicher, bei diesem Torverhältnis kann sie eigentlich nur noch ein massiver Wettbetrug daran hindern und das wäre nun mehr als auffällig.
Amerikanisches Desinteresse an Honduras
Das war es dann mit dem Rieger-Park, die zierliche Costa Ricanerin mit den großen Händen und dem großen, äh, langen Haaren, also sie hat sich auch das zweite Fußballspiel angeschaut und ist eine echte Fanin. Mein Spanisch ist aber immer noch zu schlecht, wann werde ich endlich die Weltfußballsprache erlernen?
Ich schlendere den Wenzelsplatz hinunter und stelle fest, dass diese Stadt von Jahr zu Jahr bescheuerter wird. Das liegt an der immer gleichen öden Musik, die aus den Touristenfallen plärrt, den immer gleichen Mädchen, die sich davor winden – es soll sexy aussehen und junge männliche Kunden anlocken. Der Mineralwasserhersteller Mattoni aus Karlsbad hat am unteren Ende, dem sogenannten Brückchen, eine wuchtige Bühne aufgebaut, die nun von massiven Männern bewacht wird, wo er ein Cocktailfestival verspricht. Ich möchte erst gar nicht wissen, was für ein Quatsch das gewesen ist und drücke mich an den immer gleichen professionellen Damen vorbei über den Altstädter Ringplatz zum Casa Blu, wo allerdings die Leinwand eingerollt ist und die ganze Stimmung nach letzten Bier riecht.
So gehe ich gleich weiter über die Moldau in mein Quartier und schaue in Tobi’s Bar Ecuador gegen El Salvador, pardon, ich meine Honduras. Die übrigen Anwesenden sind desinteressiert, kein Wunder, es handelt sich um Amerikaner, einen Iren, einen Waliser und eine Frau. Ich habe meine Ruhe und sehe exakt das Spiel, was ich erwartet habe, hart in den Zweikämpfen, spielerisch auf gehobenem Niveau. Ecuador erkämpft sich die Chance auf das Weiterkommen, dazu muss wohl im letzten Spiel ein Sieg gegen Frankreich her. Während des Spiels bin ich zwar versucht, in ein Gespräch über Kafkas Verwandlung einzugreifen, kann jedoch standhalten. Nein, es ist WM, da bleibt der gute Franz im Bücherregal.
Gerd Lemke