Letzter Spieltag der Vorrunden, für die Slowaken (18h) und die Tschechen (21h) geht es um alles oder nichts in diesem Turnier, nämlich ums Weiterkommen. Pünktlich beende ich um 17h meine Arbeit in einem Außenbezirk Prags (vorletzte Metrostation) und möchte mich gemütlich ins Zentrum schaukeln lassen. Doch die Reise endet drei Stationen weiter: Streckenstörung, alle aussteigen, Ersatzbusse werden bereitgestellt. Allerdings ist noch nichts organisiert und niemand weiß, von wo die Busse abfahren. Dann gehe ich schon mal zu Fuß los, denke ich, die ungefähre Richtung kenne ich ja und schaue mal, wo ich eine andere Buslinie antreffen kann.
Faszination der Vorstadt
Mich faszinieren mal wieder die Außenbezirke der Großstadt, in denen alles auf den Autoverkehr ausgerichtet ist. Die Straßenbahnschienen sind noch nicht bis hierher vorgedrungen, nur die U-Bahn hat sich ihren Tunnel unter der Erde bis tief in die Hügellandschaft des mittelböhmischen Berglands gefressen. Ich finde die nächste Bushaltestelle und warte etliche Minuten, da kommt auch schon der erste Ersatzbus, in Dreierlagen stapeln sich die Angestellten der multinationalen Kooperationen, die ihre Administrationszentren in den Büroghettos der Außenbezirke betreiben. Ob da noch eine vierte Schicht drüberpasst? Oder man die Sitze doppelt belegt, wie das in einigen Kooperationen Mode geworden ist, um festzustellen, wer seinen Schreibtisch am effizientesten verteidigt? Geschenkt, ich gehe einfach eine Busstation weiter, bei 30°C in langer Hose und Hemd über einem T-Shirt, so mein selbst auferlegter Dresscode bei Kundenbesuchen. Ich sehe immer wieder Ersatzbusse in die Gegenrichtung fahren, neben den Bürosilos gibt es auch Wohnsilos, wohin diejenigen zurückkehren, die ihrem Broterwerb ausgerechnet im Zentrum nachgehen müssen.
Bürosilos und Wohnsilos nebeneinander
Irgendetwas mit der Verteilung von Arbeits- und Wohnplätzen läuft hier inkongruent, schließe ich daraus. Nur, wo bleiben eigentlich die Busse in Richtung Zentrum? An der nächsten Bushaltestelle fährt einer vorbei, macht sich erst gar nicht die Mühe, anzuhalten. Hier will sowieso niemand raus und die beiden Personen, die warten – ich und ein Mädchen mit hübschen Beinen in einem Sommerkleid – nehmen den regulären Linienbus, der quer zu den Hauptverkehrsadern die Hügel der Stadt auf- und niederfährt. Über das Sportgelände von Strahov geht es in mir wieder bekannte Gebiete der Stadt. Ich blicke besorgt auf die Uhr, der Anpfiff rückt bedrohlich nahe, die Nationalhymnen Rumäniens und der Slowakei werde ich wohl nicht mehr schaffen.
Pünktlich zum Führungstor
Als ich meine Irrfahrten endlich beende und glücklich im Hafen des heimischen Schlaf-, Arbeits-, Wohnzimmer mit angeschlossener Bibliothek lande und die Allzweckmaschine auf das Fußballspiel eingestellt habe, sehe ich in der Wiederholung gerade das 1:0 der Slowakei. Uff, gerade noch geschafft! Wie würden nun die Balkan-Brasilianer darauf reagieren, wie sie früher wegen ihrer Trikotfarbe genannt wurden? Mittlerweile spielt Brasilien ja nicht mehr brasilianisch und Rumänien ohne stilistischen Orientierungspunkt. Zumindest spielt Hagi wieder mit und Puskas jetzt auch, nur mit einer kleinen Namensanpassung an das Rumänische: Puşcaş. Was für ein Traumpaar, wenn sie nur zusammenspielen würden! Der Trainer lässt sie allerdings nur hintereinander spielen, vielleicht hebt er sich das als Überraschung für das weitere Turnier auf. Doch das ist bei diesem Spielstand für Rumänien beendet, es braucht ein Tor, sonst gibt es keine Gelegenheit mehr, das Traumpaar miteinander zu sehen. Das fällt aber bald durch einen Elfmeter. Beide Mannschaften legen noch einen ganz flotten Walzer aufs Parkett, erfrischt von einem heftigen Regenguss eines Sommergewitters.
Die Regenschlacht von Frankfurt
Frankfurt – das am Main – ist der Austragungsort. Da war doch mal was, Stadion, Regen, ein großes Turnier in Deutschland, ein verschossener Elfmeter von Uli Hoeness (nicht der von Belgrad; der Uli war Mehrfachversager). Da kommen Erinnerungen hoch, die ich gar nicht haben kann, denn damals hat mich Fußball im Fernsehen nur höchst perifer interessiert.
Irgendwann hört es dann auf zu regnen und beide Mannschaften streben nach dem erfrischenden Bad nicht mehr mit letzter Konsequenz auf den Siegtreffer. Warum auch, da sich im Parallelspiel nichts tut, sind beide weiter, das wäre auch der Fall, wenn sich etwas täte, was aber nicht geschieht. So sind nach Schlusspfiff alle zufrieden. Den Gruppensieger Rumänien erwarten zum Dank die Niederlande im Achtelfinale, den Gruppendritten Slowakei England. Belgien kommt auch weiter und spielt dann gegen Frankreich Irgendwie ist es egal, von welchem Platz man sich in dieser Gruppe qualifiziert, ein großer Fisch wartet auf jeden. Nur die Ukraine muss nach Hause fahren, was man angesichts der politischen Lage nicht unbedingt zu wörtlich nehmen muss. Mit vier Punkten auszuscheiden verdient sicher nicht die Höchststrafe, anschließend an die Front rücken zu müssen.
Topfavoriten mit Torverhältnis 2:1
Belgien hat übrigens dasselbe Torverhältnis wie Frankreich und England aufzuweisen, nämlich 2:1. Zählen wir mal spaßeshalber ein paar Topstürmer aus deren Reihen auf: Lukaku, Mbappé, Dembelé, Kane oder die Mittelfeldunterstützer de Bruyne, Griezmann, Bellingham. In insgesamt neun Spielen bringen deren Mannschaften sechs Tore zustande, darunter ein Eigentor, ein Elfmeter (beide Frankreich). Beeindruckende Bilanz. So spielen die zukünftigen Champions, fürchte ich.
Tod oder Gladiolen
Abends geht es dann weiter. Für Tschechien ist jegliches Taktieren ausgeschlossen, „Tod oder Gladiolen“, wie es ein niederländischer Fußball-Entertainer („das Feierbiest“) mal auf den Punkt gebracht hat. Entsprechend legen die Tschechen das taktische Korsett vom Anpfiff an ab und es entwickelt sich ein heißer Tanz gegen die Türkei, zugespitzt von dem Umstand, dass Georgien im Parallelspiel gegen Portugals B-Elf gleich in Führung geht. Die Türkei könnte auf den letzten Gruppenplatz zurückfallen und nach Antalya an die türkische Riviera zum Badeurlaub fliegen.
Der direkte Vergleich
Da ist es wieder, das Gespenst des direkten Vergleichs. Es muss wohl ein Weltturnier gewesen sein, organisiert von dieser noch größeren Fußballmafia als der Uëhfah, könnte 2010 gewesen sein. Da häuften sich diese bedeutungslosen letzten Gruppenspiele für Mannschaften mit zwei Siegen und dem Gruppensieg in der Tasche. Alle ließen ihre B-Elf auflaufen, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Motivation. Als Ergebnis ergab sich eine massive Wettbewerbsverzerrung, weshalb die Fußballmafia wieder zum guten alten Prinzip des Torverhältnisses als Unterscheidungskriterium bei Punktgleichheit zurückgekehrt ist. So zumindest erinnere ich mich, aber mein Gott, wo überall will man laut seinem Gedächtnis dabei gewesen sein – oder schlimmer noch, nicht dabei gewesen sein.
Portugal könnte sein Abschlussspiel 5:0, nein, sogar 10:0 verlieren und wäre so immer noch Gruppensieger. Was wiederum gut für die spektakulärste Mannschaft des Turniers, für Georgien ist, die nach einem 2:0 ins Achtelfinale einzieht (Gegner: Spanien). Damit ist – so viel sei schon mal verraten – Ungarn auch ausgeschieden und einer ganzen Fußballregion, nämlich Mittelosteuropa, droht in diesem Turnier der Kahlschlag.
Böse Erinnerung an 2008
Tschechien gegen die Türkei, das ging schon mal schief, bei der Eh Em 2008, nämlich für Tschechien, das einen sicher geglaubten Sieg nach einem groben Torwartfehler und einem weiteren Gegentor in der Nachspielzeit aus der Hand gegeben und damit das Weiterkommen weggeworfen hat. Ach ja, die Erinnerung... Was ist aus dem Torwart noch mal geworden? Richtig, er hat das Fach gewechselt und macht jetzt in Eishockey.
Baránek heißt er, ist Bademeister und auch sonst kein Kind von Traurigkeit. Nach 20 Minuten und zwei ebenso unnötigen wie dämlichen Fouls schickt ihn der Pfeifenmann unter die Dusche. Jetzt sind es nur noch zehn Tschechen, die auf Sieg spielen müssen. Und das auch noch ohne Stürmerstar Patrick Schick, der verletzt und maulend auf der Bank sitzt. Trotzdem holt er sich irgendwann eine gelbe Karte ab und ist für das nächste Spiel gesperrt, für das sich die Mannschaft sowieso nicht qualifiziert.
Fatale Torwartparade
Dann passiert auch noch folgendes, der tschechische Torwart kugelt sich bei einer prächtigen Parade die Schulter aus, der Ball landet aber nicht im Aus, sondern bei Calhanoglu (man erspare mir hier die Sonderzeichen im Namen), der ihn in die lange Ecke zielt. Der verletzte tschechische Tormann versucht mit dem Bein noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist und muss dann runter. 0:1, einen Mann weniger und mit dem Ersatztorwart, der diese Rolle von Bayer Leverkusen kennt, im Kasten. Die Comeback-Qualitäten des frischgebackenen deutschen Meister sind jetzt gefragt. Und Tschechien schafft tatsächlich den Ausgleich! In einer etwas unübersichtlichen Situation vor dem türkischen Tor setzt jemand den, ich glaube, zweiten Nachschuss ins Netz. Geht da noch was? Der eine Jiránek geht, der andere kommt und geht gleich frech ins Dribbling. Tschechien gibt alles und nicht auf, aber in den entscheidenden Momenten verspringt dem einen der Ball, dem anderen misslingt der Abschluss und tief in der Nachspielzeit endet ein türkischer Konter im Netz. Ein bravouröser Kampf endet bitter. Geschlagen, aber erhobenen Hauptes marschiert die tschechische Mannschaft vom Feld. Tatsächlich, ein tschechischer Spieler sieht noch nach dem Schlusspfiff die rote Karte, für den ist das Turnier jetzt aber so was von zu Ende!